Bildung für das 21. Jahrhundert – Aus der Pandemie lernen – Bildung endlich konsequent neu denken

Antrag der GRÜNEN im Landtag

I. Ausgangslage

Die Corona-Pandemie hat die Herausforderungen in unserem Bildungssystem allen deutlich vor Augen geführt. Die Bildungsungerechtigkeit wurde verschärft. Die Wertschätzung von Ver­schiedenheit und eine Pädagogik der Vielfalt sind nicht das Leitbild des Schulsystems. Der schon politisch ausgebremste Inklusionsprozess in Bezug auf Kinder und Jugendliche mit Be­einträchtigungen wurde weiter zurückgeworfen.

Die digitale Infrastruktur bleibt immer noch Stückwerk. Corona hat eine soziale Dimension und Corona schlägt in prekären Lebenslagen durch. Es sind z.T. erhebliche psychosoziale und emotionale Belastungen zu verzeichnen, davon sind wiederum Kinder und Jugendliche in pre­kären Lebenslagen verstärkt betroffen. Die soziale Lage der Schülerinnen und Schüler wirkt sich verstärkt auf die Infektionsgefährdung aus, führt in den Schulen, die in herausfordernden Lagen arbeiten, zu mehr Quarantänen. Die Personalausstattung ist dabei zusätzlich gerade an diesen Standorten von Besetzungsproblemen gekennzeichnet. Das bedeutet mehr Schwie­rigkeiten bei der Stellenbesetzung, weniger Fachlehrkräfte und weniger Personal anderer pä­dagogischer Professionen, überproportional mehr Personal über einen Seiten- oder Querein­stieg mit allen Konsequenzen für die Belastung der Kollegien, die z. B. eine zusätzliche Aus­bildungsleistung erbringen müssen, ggf. aber sogar weniger Lehramtsanwärterinnen und -an-wärter zugeteilt bekommen, weil grundständig ausgebildete Lehrkräfte zu wenig zur Verfügung stehen.

Die Schulformen profitieren unterschiedlich von Ressourcenzuweisungen, die strukturellen Ungleichheiten im Schulsystem bleiben bestimmend. Ungleiches ungleich behandeln, diese politische Forderung bleibt bislang uneingelöst. Bei insgesamt weiterhin nicht bedarfsgerech­ter Ausstattung mit Ressourcen und ohne ausreichende Standardsetzung in entscheidenden bildungspolitischen Feldern driftet die Bildungsschere weiter auseinander – Armut wird durch mangelnde Bildungsmöglichkeiten „vererbt“.

Dies wird durch die unzureichende Ausstattung mit Fachlehrkräften und multiprofessionellem Personal, die wenig geringe Attraktivität und Chancen von Beförderungsstellen, die grundle­gende Besoldungsfrage, die Ausstattung und Ausgestaltung des Lern- und Lebensortes Schule noch verschärft. Schulen in herausfordernden Lagen, Schulen, die die gesamtgesell­schaftlichen Aufgaben von Inklusion und Migration in ihrem Portfolio haben und ausfüllen sol­len und wollen, müssen um knappe Ressourcen zum Teil untereinander in Konkurrenz treten.

Dass die Gleichwertigkeit der Lebens- und Bildungsverhältnisse in Nordrhein-Westfalen nicht gegeben ist, dass die soziale Schere weiter auseinandergeklafft ist, liegt auf dem Tisch. Hinzu kommen die Unterschiede aufgrund der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der Kommunen mit unmittelbaren Auswirkungen auf Schulbau und -sanierung, aber auch OGS-Ausstattung und Elternbeiträge.

Viele engagierte Kolleginnen und Kollegen, viele Teams in den Schulen haben sich gegen die wachsende Bildungsungerechtigkeit gestemmt und für ihre Schülerinnen und Schüler Großar­tiges geleistet: Bildung umfasst mehr als Wissensvermittlung, es geht darum, Kinder und Ju­gendliche sozial und emotional aufzufangen und zu begleiten. Es geht darum, sie zu empo-wern und zu befähigen, ein selbstbestimmtes und glückliches Leben führen zu können. Teil­habe muss eingelöst werden. Kinder und Jugendliche sollen erfahren, dass sie ernst genom­men und der Gesellschaft etwas wert sind. Dann können wir sie für die Gestaltung und Wei­terentwicklung unserer demokratischen Gesellschaft gewinnen. Das alles kostet die Kraft der Akteurinnen und Akteure in einer weiterhin unberechenbaren pandemischen Lage. Viele füh­len sich erschöpft.

Die Pandemie erfordert von den Schulen Kreativität und neue Formen, um den Bildungsverlauf sicherstellen zu können. Das darf nicht ausgebremst werden. Schulen erleben immer wieder, wie Strukturen blockieren, wie Vorgaben zu eng gefasst sind, Nach wie vor dominiert die Aus­richtung dass Kinder sich an das System anpassen müssen. Beharrlich wird Schulen verwehrt, sich so zu entwickeln, dass das System den Kindern gerecht werden kann.

II. Investitionen in Bildung verstärken

Eine bessere Ressourcenausstattung duldet keinen Aufschub mehr, und es kann nicht sein, dass allein im Jahr 2020 mehr als eine Viertelmilliarde Euro aus dem Schulhaushalt an den Finanzminister zurückgeflossen ist und sich für das Jahr 2021 die gleiche Bilanz abzeichnet. Das Geld muss bei den Schulen verbleiben, die es dringend benötigen, auch um Menschen u. a. aus Kultur, Kunst und Musik, Handwerk und Technik sowie Sport für die Arbeit in den Schulen zu gewinnen. Gleichzeitig müssen die Schulen befähigt und die Lage versetzt werden, zugewiesene Mittel zu bewirtschaften. Die Verwaltungsebene der Schulen muss über eine Neuausrichtung der Leitungsstruktur mit entsprechenden Verwaltungsfachkräften gestärkt werden.

Mindestens eine verbindliche Schulleitungsassistenz gehört nicht nur in die großen Systeme, gerade Schulleitungen an den Grundschulen benötigen Unterstützung. Es braucht auch ver­lässliche Ressourcen für das Verwaltungs- und IT-Schulmanagement mit neuen Vereinbarun­gen zwischen dem Land und den Schulträgern und verlässlicher Finanzierung.

Durch eine Neujustierung von Praxissemestern und Praxisphasen der universitären Lehramts­ausbildung könnten verlässliche Unterstützungsstrukturen entwickelt werden, die eine Win-Win-Situation für Studierende und Schulen bedeuten.

Systematisch muss Entlastung in den Schulen spürbar werden.

Die gleiche Bezahlung der Lehrämter, die Chancen auf Beförderung und auf Weiterqualifika­tion sind wichtige Parameter, um die Attraktivität des Arbeitsplatzes Schule vor allem in der Primarstufe und Sekundarstufe I zu steigern. Für die Personalgewinnung gerade für Schul­standorte in herausfordernden Lagen ist eine spürbare Absenkung der Unterrichtsverpflich­tung notwendig. Hier wird auch die grundlegende Aufgabe deutlich, die Lehrerarbeitszeit neu zu beschreiben: Teamzeiten, Beratung, Kooperationen, Netzwerkarbeit, Multiprofessionalität brauchen Zeit.

Schulen brauchen multiprofessionelles Personal, das auch in der Schulkonferenz verantwort­lich eingebunden ist. Und sie brauchen eine freiere Personalbewirtschaftung, um besser und angemessener reagieren zu können. So kann z. B. ein Berufskolleg einen interessierten Elekt­romeister nicht einstellen, weil das System so schwerfällig ist, dass der mögliche Bewerber längst eine andere berufliche Option wahrnimmt, bevor eine Stelle zugewiesen und ausge­schrieben ist.

III. Pädagogische Souveränität

Unser Bildungssystem ist strukturell nicht gewappnet für die Anforderungen des 21. Jahrhun­derts, sondern immer noch geprägt von gesellschaftlichen Vorstellungen, die weit zurück im letzten Jahrtausend liegen.

Es gibt längst einen internationalen Diskurs darüber, was die Kompetenzen sind, die für Ler­nende des 21. Jahrhunderts zentral sind. Der Fokus liegt auf: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken.

Alle Fähigkeiten sollten durch und mit dem Lernen von Wissensinhalten erworben werden.1 Bei der Frage, was Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert lernen müssen, geht es da­rum, Wissen nicht passiv zu erwerben. Lernende müssen sich Wissen aktiv aneignen, um es zu verstehen. Sonst können sie es nicht auf neue Situationen, in eine neue Umgebung über­tragen. Wissen ist die Grundlage für Werthaltungen, für das Entwickeln von Problemlösungen, für die Gestaltung von Transformation und Neukonstruktion der Wirklichkeit. Wenn „Skills“ auf inhaltliches Wissen angewendet werden, in Handlungen übertragen werden, werden sie fruchtbar und können sich gegenseitig verstärken. Es geht um einen Kompetenzbegriff2, der weit mehr ist als die in curricularen Tabellen gegossene Kompetenzorientierung.3 Es geht um transversale Kompetenzen, um private, gesellschaftliche und berufliche Situationen bewälti­gen und mitgestalten zu können, und eben auch um die motivationale und willentliche Steue­rung von Handlungen und Absichten sowie die soziale Bereitschaft, sich engagiert in die Ge­sellschaft einzubringen. Personalisiertes und kollaboratives Lernen sind in den Bildungspro­zessen die beiden Seite einer Medaille.

Die einzelne Schule ist der Ort, an den die Lernangebote, die Lernmöglichkeiten, Lerngele­genheiten, die Lernumgebung, die Lerninstrumente, Zeiten und Lernräume in diesem Sinne weiterentwickelt werden. Die Gestaltung eigenaktiven Lernens erfordert die Ausbildung der entsprechenden individuellen und systemischen Lehr-Kompetenzen der an der Schule tätigen Personen. Schulen müssen also in die Lage versetzt werden, diese Entwicklung zu leisten. Dazu benötigen sie pädagogische Souveränität bei einer klaren und verbindlichen Orientie­rung an gesellschaftlich vereinbarten Bildungszielen. Diese klare und verbindliche Orientie­rung braucht ein Leitbild, das alle Ebenen auf die Schaffung eines inklusiven, der Vielfalt ver­pflichteten Bildungssystems umfasst und die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt stellt. Schulen benötigen Ressourcen, um diese Schulentwicklung leisten zu können.

Es gibt viele Schulen, die mit Engagement ihre Schul- und Unterrichtsentwicklung voranbrin­gen. Sie haben sich innovativen reformpädagogischen Netzwerken angeschlossen, wie z. B. im Schulverbund „Blick über den Zaun“4 oder „Schule im Aufbruch“.5 So vereint das Netzwerk „Schule im Aufbruch“ Schulen, die für eine ganzheitliche und transformative Bildung im Sinne der Bildung für nachhaltige Entwicklung einstehen. Im Zentrum steht dabei die dreifache Ver­antwortung: Verantwortung für sich selbst, Verantwortung für Mitmenschen und Verantwor­tung für unseren Planeten. Sie richten sich an übergeordneten, verbindenden Themen aus. Als Orientierung gelten die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) der UN, zu denen sich auch Nordrhein-Westfalen bekannt hat.

Die Schulen dürfen auf diesem Reformweg nicht ausgebremst werden, wenn sie Erfahrungs-und Lernräume über das enge bürokratische Korsett ministerieller Verordnungen hinaus er­weitern wollen. Dazu muss sich auch die Schulaufsicht verändern und stärker als bislang bei diesem Prozess fördern, motivieren und unterstützen. Deshalb muss sich die Spitze der Schu­ladministration klar dazu bekennen, dass Schulen innovative Wege gehen sollen, und der Schulaufsicht den Auftrag geben, auf allen Ebenen Ermutigung und Unterstützung aufzuzei­gen.

Schulen brauchen die pädagogische Freiheit und die Souveränität, das Lernen flexibler und selbstständiger zu organisieren. Das betrifft die Zusammensetzung von Lerngruppen und jahr-gangsübergreifendes Lernen in kooperativen Lernformen. Es braucht Raum für Kreativität und Zeit, um Problemlösungen und Kommunikationsfähigkeit zu entwickeln. Es geht um Kompe­tenzen, um Gesellschaft solidarisch und mit Gemeinsinn zu gestalten und den Erhalt unserer Lebensgrundlagen voranzubringen.

Andere Lernformate müssen die Möglichkeiten für Schülerinnen und Schüler erweitern, zu zeigen, was sie gelernt haben, was sie können – und andere Formen der Leistungsrückmel­dung wie z. B. Kompetenzraster beinhalten. Ziffernnoten sagen nichts aus über individuelle Lernfortschritte, über notwendige Förderungen und erweiterte Lernangebote. Deshalb muss es die Möglichkeit geben, bis einschließlich der Jahrgangsstufe 8 auf Ziffernnoten zu verzich­ten. Lernen im eigenen Takt muss eine Flexibilisierung in den Schulstufen, auch im Absolvie­ren der Oberstufe ermöglichen. Die Unterstützung der Schulen, kooperative Lernformen zu entwickeln, muss sichergestellt werden. Schulentwicklung benötigt Zeitressourcen für koope­ratives Arbeiten im Team und Teamentwicklung. Darüber hinaus ist das Feedback von Schü­lerinnen und Schülern sowie das Einbeziehen der Eltern unverzichtbar für gelingende Schul­entwicklungsprozesse.

Angesichts der Bedeutung der Klimakrise für die Menschheit müssen die Bildungsziele darauf ausgerichtet sein, das notwendige Wissen zu vermitteln, Problemlösungs- und Gestaltungs­kompetenzen zu entwickeln und zu stärken. Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) sowie die Auseinandersetzung mit den Zielen für Nachhaltige Entwicklung (SDGs – Sustainable De-velopment Goals) sind die Grundlage. Dazu gehört es auch neue Formate zu fördern wie z.B. „FreiDays“, das Projekt „Herausforderungen“ wie es Schulen aus dem Netzwerk „Schule im Aufbruch“ längst praktizieren müssen oder das „Lernen durch Engagement“ (Service Learn-ing).

IV. Demokratiebildung und demokratische Schulkultur

Wettbewerbe wie „Demokratisch Handeln“ und „Der Deutsche Schulpreis“ führen zu hervorra­genden Projektbeschreibungen und Materialsammlungen für eine gute demokratiepädagogi­sche Praxis. Aber es reicht nicht, Material zur Verfügung zu stellen. Die demokratiepädagogi­sche Arbeit benötigt Ressourcen, die in einem ernstzunehmenden Verhältnis zur Bedeutung der Aufgabe stehen, beginnend mit der Aus- und Fortbildung schulischen Personals. Demo­kratiebildung benötigt die Öffnung von Schule, Zeiten und Räume und für Schülerinnen und Schüler im schulischen Alltag die Möglichkeit des zivilen und politischen Engagements. De­mokratiebildung als durchgängiges Prinzip im schulischen Alltag ist weit mehr als die SV-Sit­zungen – es beinhaltet die Anwendung des Gelernten im gesellschaftlichen Kontext genauso wie die Mitbestimmung bei unterrichtlichen Inhalten und der Struktur von Unterricht. In der Schule sollte die Vielfalt als Motor eines demokratischen Miteinanders strukturell abgesichert sein.

„Damit fördern wir eine Schule, in der man durch Erfahrung und praktisches Engagement lernt, was die Demokratie braucht und als staatliche Verfassung selbst nicht einfach erzeugen kann: Überzeugte Demokratinnen und Demokraten, denen die Zukunft keine Furcht bereitet, Vielfalt und Minderheitenschutz ein Wert und eine Handlungsnorm ist und die wissen, dass es auf sie ankommt, wenn unser Gemeinwesen als demokratischer Staat in Freiheit und Verantwortung auch in Zukunft funktionieren soll.“6 Dafür müssen Schülerinnen und Schüler in der Schule auch Demokratie praktizieren und lernen, Verantwortung zu übernehmen.

V. Inklusive Schulentwicklung

Seit 2006 ist die individuelle Förderung im Schulgesetz als Anspruch und Versprechen veran­kert. Vielfalt wird aber in der Schul- und Unterrichtsentwicklung längst nicht als Schatz begrif­fen. Die im gleichen Jahr verabschiedete UN-„Behindertenrechtskonvention“ verpflichtet alle Staaten zum Aufbau eines inklusiven Bildungssystems. Hiervon sind wir noch weit entfernt. Eine Schule arbeitet inklusiv, wenn sie für alle ihre Schülerinnen und Schüler die Barrieren identifiziert und abbaut, die ihnen den Zugang zu erfolgversprechenden und zielführenden Lernprozessen der Lerngruppen ermöglicht, denen sie angehören. Inklusive Schule zu ma­chen ist vor allem auch eine Kompetenz der in einer solchen Schule arbeitenden Personen (vgl. European Agency for Development in Special Needs Education: Inklusionsorientierte Lehrerbildung – ein Profil für inklusive Lehrerinnen und Lehrer (TE4I)7.

Wir brauchen einen konsequenten Plan, in welchen Schritten das umgesetzt werden soll. Hierzu gehört eine Verankerung der sonderpädagogischen Förderung in der allgemeinen Leh­rerausbildung. Hierzu gehören diagnostische Grundkenntnisse zum Erkennen temporärer Be­darfe und neue Formen, diese Förderung zeitlich gebunden in der Verantwortung der Regel­schule zu ermöglichen. Die bisherige Form der Feststellung von AOSF-Bedarf wird dem nicht gerecht. Nicht nur, dass es einen AOSF-Bedarf Lernbehinderung ausschließlich in Deutsch­land und Österreich gibt. Die rapide ansteigenden Zahlen festgestellter AOSF-Bedarfe zum Beispiel im Bereich geistiger Entwicklung zeigen nicht in erster Linie die Veränderung der geis­tigen Lernausgangslagen der heutigen Schülergeneration, sondern zuallererst das Bedürfnis der Schulen, weitere Ressourcen zur Unterstützung zu erlangen. Da erscheint das AOSF-Verfahren der zurzeit einzig gangbare Weg. Damit bleibt es beim Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma.

Stattdessen muss Inklusionsbegleitung als fest installiertes System in den Regelschulen ver­ankert werden und darf nicht von der Zuerkennung von AOSF abhängig sein. Dazu braucht es ein inklusives Setting an den Regelschulen, verbunden mit Therapiemöglichkeiten an der Schule. Der Ganztag bietet dafür gute Chancen. Gleichzeitig muss die Rollenverteilung für das Personal in der Schule klar geregelt und in der Praxis verbindlich umgesetzt sein.

Inklusionsbegleitung ist kein lehrendes Personal. Es braucht eine durchgängige Qualifizierung für diese Tätigkeit und Fortbildungsmöglichkeiten.

Von einem inklusiven Unterricht und der dazugehörigen Fächer-Stundenrhythmisierung mit der entsprechenden Entwicklung inklusiver Lernaufgaben für die gesamte Lerngruppe sind die Schulen vielfach noch weit entfernt. Statt dessen ist vielfach Exklusion in Sondergruppen oder Sonderklassen innerhalb der Schule zu beobachten.

VI. Multiprofessionelle Teams

Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen und dessen Lebenschancen gerecht zu gestalten. Das bedeutet, dass Schule sich öffnen muss für andere Professionen. Dies wiede­rum erfordert ein anderes Selbstverständnis von Schule und ein anderes Lehrerbild.

Schulbezogene Ausbildungsprofile müssen ausgebaut werden für Erzieherinnen und Erzieher im Ganztag genauso wie Inklusionsbegleiterinnen und -begleiter, z. B. als Sozialassistenz in der schulischen Inklusion. Auch Fachkräfte in der Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Schul­psychologie sind Teil des Teams. Fortbildungen müssen multiprofessionell ausgerichtet wer­den.

Fortbildungen, Coachings, Hospitationen und Supervisionen sind zunehmend von größerer Bedeutung. Bislang fehlt es an einem konsequenten Fortbildungsmanagement, das alle an Schule Beteiligten umfasst. Zudem müssen zeitliche und auch finanzielle Ressourcen zur Ver­fügung stehen, z.B. für die Hospitationen und Zusammenarbeit in Qualitätszirkeln. Neue For­mate wie die Fortbildung in der Schul- und Teamentwicklung müssen gefördert werden.

VII. Schule im Sozialraum

„Es braucht ein ganzes Dorf“ bedeutet auch, dass sich Schule im Sozialraum öffnen muss. In den Schulkonferenzen muss sich die Multiprofessionalität spiegeln.

Die Weiterentwicklung von Grundschulen zu Familiengrundschulzentren bzw. Verzahnung mit den KiTa-Familienzentren erweitert das Spektrum um Beratung und unterstützende Angebote. Dazu gehören auch die Familienbildung und die Qualifikation von Eltern für Mitwirkung in Bil­dungseinrichtungen und die Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule.

Für die Grundschulen muss die Möglichkeit, in den gebundenen Ganztag gehen zu können, freigestellt werden. Die Offene Ganztagsschule muss gesetzlich mit Qualitätsstandards ver­ankert werden. Das betrifft die räumliche, personelle und zeitliche Qualität und die gesund­heitsorientierte Essensversorgung mit Partizipation der Schülerinnen und Schüler. Gerade Schulen in herausfordernden Lagen benötigen einen Ganztagszuschlag, damit der Ganztag auch uneingeschränkt stattfinden kann. Auch Tanz, Theater, Musik und Sport müssen Platz, Raum und Zeit im Ganztag finden. Die evaluierten Mentoringprogramme sollten systematisch in die schulischen Netzwerke eingebunden werden.

VIII. Bildung in der digitalen Welt

Die digitale Transformation der Gesellschaft ist in der Lebenswelt der Schülerinnen und Schü­ler längst angekommen. Und sie wirkt auch spürbar im politischen System. Informationen auf ihre Quellen hin zu prüfen, den Gehalt zu analysieren und Interessen zu identifizieren, Fake News zu entlarven muss Teil der politischen und Medienbildung in der Schule sein. Zu kriti­schem Denken zu befähigen, Raum und Zeit für Diskussion und Partizipationsmodelle zu ge­ben, ist für die Bildung unaufgebbar. Medienbildung ist Bestandteil der Demokratiebildung. Deshalb darf es auch keine Abstriche in den sozialwissenschaftlichen Bestandteilen in der Lehrerausbildung geben, vielmehr gehört Demokratiebildung und Menschenrechtsbildung in die Aus- und Fortbildung aller pädagogischen Fachkräfte. Denn in Bezug auf demokratiezer­setzende Angriffe und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gibt es keine Neutralität.

Die Digitalisierung braucht also eine politische Gestaltung. Das gilt für die Standardsetzung in Bezug auf die Ausstattung wie auch für das, was Schülerinnen und Schüler sowie die Eltern von der Schule im Unterricht erwarten dürfen. Die Digitalisierung ersetzt nicht die Pädagogin­nen und Pädagogen und die Beziehungsarbeit, sie kann und darf das soziale Lernen nicht ersetzen. Unabhängig von aktuellen Fragen müssen die Chancen des Arbeitens mit digitalen Medien jedoch ergriffen werden, um mehr individuelle Förderung zu ermöglichen, Teilhabe zu sichern, wenn Lebenssituationen eine Teilnahme am Präsenzunterricht temporär nicht mög­lich machen.

Auch in der Entwicklung von Digitalität sind personalisiertes und kooperatives Lernen die bei­den Seiten einer Medaille. Schulen verfügen noch nicht in ausreichendem Maß über eine ent­sprechende Didaktik und Medienkonzepte sowie die nötige Hard- und Software. Außerdem fehlt es ihnen an Unterstützung und klaren Standards im Hinblick auf ungeregelte Fragen zu Datenschutz und Datensicherheit. Die Aufgabe und Notwendigkeit, für Datenschutz und Da­tensicherheit zu sorgen, muss den Schulen abgenommen werden. Die Schulen brauchen hier entsprechendes Fachpersonal (Informatikerinnen und Informatiker), die die umfängliche Ad­ministration in diesem Bereich übernehmen. Mit der digitalen Infrastruktur müssen die Aus­stattungsstandards und verlässlichen Fortbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte gegeben sein. Schülerinnen und Schüler und Eltern müssen wissen, welche Qualität in Bezug auf Ausstat­tung und Qualität des Unterrichts mit digitalen Medien gewährleistet sein muss.

Außerdem muss die Frage der Lernmittelfreiheit in der digitalen Welt schulgesetzlich so gere­gelt werden, dass Bildungschancen nicht durch die Finanzkraft des Elternhauses beschränkt werden.

IX. Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

mit den Fachverbänden von Eltern, Lehrkräften, anderen Professionen, Landesschüler*innen-vertretung und Vertreterinnen und Vertretern aus den Bildungswissenschaften Bildungsziele und Maßnahmen zu erörtern und dem Landtag zur Umsetzung vorzulegen, die folgende As­pekte berücksichtigen:

  • Die Schaffung eines inklusiven Bildungssystems, das sich konsequent an der individuellen Förderung aller Kinder und Jugendlichen ausrichtet.
  • Darauf aufbauend die Entwicklung eines verbindlichen Leitbilds für alle Ebenen des Bildungssystems und innerhalb dessen die Schaffung größerer pädagogischer Souveränität u. a. in Bezug auf projektorientiertes, fächerübergreifendes Lernen, Formate der Leistungsbewertung und Leistungsrückmeldung, Bildung von Lerngruppen, Zeiten sowie Öffnung von Schule.
  • Ermöglichung von erweiterten Möglichkeiten bei der Personalbewirtschaftung für Schulen im Sinne der Etablierung multiprofessioneller Teamarbeit.
  • Eine Reform der Lehrerausbildung, die sich an einem Lehrerbild orientiert, das den Her­ausforderungen und Aufgaben im Bildungssystem entspricht.
  • Eine Reform der Berechnung der Lehrerarbeitszeit, die die wirklichen Anforderungen an­gemessen abbildet.
  • Die Entwicklung eines Fortbildungsmanagements für alle an Schule Beteiligten.

1 Charles Fadel, Maya Bialik, Bernie Trilling. Deutsche Übersetzung Jöran Muuß-Merholz (2017): Die vier Dimensionen der Bildung. Was Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert lernen müssen. Hamburg

2 Weinert, Franz E. (Hg.) (2001): Leistungsmessungen in Schulen, Weinheim und Basel

3 Weinert, Franz E. (1999): Concepts of competence. Definition and selection of competencies. Mün­chen: Max-Planck-Institut für Psychologische Forschung

4 https://www.blickueberdenzaun.de/

5 https://schule-im-aufbruch.de/

6 https://deutsches-schulportal.de/expertenstimmen/demokratiebildung-gefordert-aber-auch-gefoer-dert/ (Abgerufen: 15.12.2021)

7 https://www.european-agency.org/sites/default/files/te4i-profile-of-inclusive-teachers_Profile-of-Inclu-sive-Teachers-DE.pdf