Belastungen von Kindern und Jugendlichen endlich ernst nehmen!

Antrag der GRÜNEN im Landtag

Portrait Josefine Paul

I. Ausgangslage

Kinder und Jugendliche stellen im Hinblick auf die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen eine besonders vulnerable Gruppe dar. Zwar waren die Infektionszahlen von Kindern und Jugendlichen lange nicht so hoch wie bei Erwachsenen und älteren Menschen, trotzdem sind sie von der Pandemie stark betroffen.

Kinder und Jugendliche wurden und werden in der Pandemiebekämpfung zumeist nur in ihrer Rolle als Schülerinnen und Schüler oder Kita-Kinder gesehen, allerdings zu wenig als Kinder und Jugendliche, die den Kontakt zu ihren Gleichaltrigen benötigen. Aber auch die Belastungen für die Familien insgesamt sind durch die derzeitigen Einschränkungen teilweise immens.

Insbesondere der temporäre Wegfall von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, aber auch Jugendzentren, Sportvereinen oder Stadteilzentren hat Familien in ihrem Alltag auf den privaten Bereich zurückgeworfen. Für viele Familien ist die soziale Infrastruktur aber ein wichtiger Baustein zur Bewältigung ihres Alltags. Sei es, weil die Angebote der Jugendhilfe fester Teil eines täglichen Betreuungssettings sind oder aber auch eine wichtige Unterstützung für benachteiligte Familien. Die vielfältigen Angebote und Einrichtungen der Jugendhilfe sind aber vor allem Entwicklungsräume für Kinder und Jugendliche. Seit Monaten stehen diese nicht oder nur sehr eingeschränkt zur Verfügung. Darüber hinaus ist es für junge Menschen auch nur eingeschränkt möglich, Kontakte mit Gleichaltrigen außerhalb von Kita und Schule zu pflegen und sich Räume außerhalb formaler Bildungseinrichtungen zu erschließen und anzueignen. Dabei sind es vor allem auch diese Erfahrungen, die für Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung besonders wichtig sind. Orte des Selbstgestaltens, der Kreativität und eigenen Möglichkeit zur Gestaltung, zur Verantwortungsübernahme und Beteiligung sind wichtig zur Persönlichkeitsbildung. Sowohl die Aneignung der eigenen Lebenswelt für Kinder, als auch die Räume für Jugendliche, sich auszuprobieren als Teil des Erwachsenwerdens, standen jungen Menschen kaum noch zur Verfügung.

Psychische Belastungen nehmen zu

Die CoPsy-Studie1 zeigt auch im Verlauf der Pandemie einen besorgniserregenden Anstieg von psychischen Belastungen bei Kindern und Jugendlichen. Während in der ersten Welle der Pandemie circa 70% der Jugendlichen angaben unter einer geminderten Lebensqualität zu leiden, waren es in der zweiten Welle schon 85%.

Die Sorgen der Kinder und Jugendlichen und die Dringlichkeit etwas gegen diese zu tun zeigen sich hier besonders deutlich. Doch nicht nur das, mittlerweile weist auch knapp jedes dritte Kind psychische Auffälligkeiten auf.

Diese Befunde sind insgesamt besorgniserregend, wenngleich nicht alle einer ärztlichen Behandlung bedürfen oder zu verfestigten Krankheitsbildern führen. Es zeigt sich aber deutlich, dass die Einschränkungen der Lebens- und Erfahrungsräume junger Menschen erheblichen Einfluss auf ihr Wohlbefinden und ihre Entwicklung haben. Der seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist insgesamt, aber verstärkt vor dem Hintergrund der Bewältigung der aktuellen Pandemieerfahrungen, größere Aufmerksamkeit zu widmen.

Die JuCo-2-Studie2 zeigt deutlich, wie sehr Kindern und Jugendlichen der Kontakt zu ihren Freundinnen und Freunden fehlt. 65,1% der Kinder und Jugendliche geben an, dass sie sich zumindest zum Teil nach Hobbys und jungen Menschen sehnen. Außerschulische Angebote und Orte, an denen sich junge Menschen mit ihren Peers treffen können, sind wichtig für ihre Entwicklung und tragen außerdem positiv zu ihrer mentalen Stärke bei. Mit Freundinnen und Freunden im Park sitzen oder Fußball spielen, ist nun oftmals mit Angst verbunden. Momentan beschränkt sich ein Großteil ihres Lebens auf Laptop und Handy, denn nicht nur der Unterricht findet online statt, sondern dies ist momentan auch eine der wenigen Möglichkeiten, um mit Freundinnen und Freunden in Kontakt zu bleiben. Dies ersetzt jedoch in keiner Weise den physischen Kontakt zu Gleichaltrigen. Darüber hinaus haben Kinder und Jugendliche Angst vor ihrer Zukunft – das gaben 71,5% der Befragten an. Vor allem aber haben Kinder und Jugendliche an institutionellen Übergängen Angst.

Neben psychischen Belastungen haben Bewegungsmangel und schlechtere Ernährungsmuster zugenommen. Bewegung, Spiel und Sport sind nicht nur für die motorische Entwicklung und die körperliche Gesundheit wichtig, sie steigern auch die kognitive Leistungsfähigkeit. Bewegten sich Kinder und Jugendliche im ersten Lockdown sogar zum Teil mehr als vor der Pandemie, hat der Bewegungsmangel im zweiten Lockdown stark zugenommen. Die starken Einschränkungen im Vereinssport sind dafür ein entscheidender Grund. Gleichzeitig ist aber auch die Alltagsbewegung offensichtlich zurückgegangen.

Erkenntnisse der Aerosolforschung zeigen, dass die Ansteckungsgefahr draußen erheblich geringen ist als in geschlossenen Räumlichkeiten. Daher ist insbesondere für Kinder, Jugendliche und Familien eine stärkere Differenzierung von zwischen Aktivitäten draußen und drinnen sinnvoll.

Psychosoziale Belastungen verstärkt in den Blick nehmen

Schon vor Beginn der Pandemie zeigt eine Studie der BARMER-Krankenkasse3, dass sich psychotherapeutische Behandlungen in den letzten zehn Jahren verdoppelt haben. Durch die Isolation in der Pandemie steigt die Nachfrage nach Therapieplätzen, auch für Kinder und Jugendliche, außerordentlich an, um circa 13% im Vergleich zum Vorjahr. Kinder und Jugendliche mit einer psychischen Vorbelastung sind in dieser Pandemie besonders gefährdet, viele stellen sich wieder bei ihren Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten vor, obwohl ihre Therapie längst beendet war. Die Kapazitäten von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sind jedoch gering und mittlerweile an ihrer Belastungsgrenze angekommen.

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Die Befragung von Jugendämtern „Wie Jugendämter die Auswirkungen der Corona-Pandemie einschätzen und welchen Handlungsbedarf sie sehen“ der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter vom März 2021 stellt fest, dass die stärksten Mehrbedarfe im Bereich der schulischen Teilhabe, der Jugendsozialarbeit, der sozialen Integration und des Kinderschutzes gesehen werden.4

So ist neben der psychischen Belastungen auch den verschiedenen Gewaltformen gegen Kinder und Jugendliche auch vor dem Hintergrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie eine besondere Aufmerksamkeit zu richten.

Die Studie zur häuslichen Gewalt während der Corona-Pandemie, die im Juni 2020 von der Technischen Universität München und dem Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung veröffentlicht wurde, hat gezeigt das neben Frauen auch Kinder während des ersten Lockdowns Gewalt erfahren haben. Kinder wurden in 6,5 % der Haushalte von einem Haushaltsmitglied körperlich bestraft. 10,5 % der Kinder befanden sich zu diesem Zeitpunkt in häuslicher Quarantäne.

Durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie brechen für Kinder und Jugendliche niedrigschwellige Anlaufstellen ab. Das kann dazu führen, dass die Dunkelziffer der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gewachsen ist.

Benachteiligungen dürfen sich nicht weiter verstärken

Kinder und Jugendliche aus prekären Lebensverhältnissen leiden besonders stark unter den Einschränkungen der Pandemie, die Alltagsstrukturen durch Homeschooling und unregelmäßige Unterrichtszeiten haben sich für viele Kinder und Jugendliche stark verändert. Insbesondere die familiäre Situation spielt bei den Bewältigungsmöglichkeiten eine wichtige Rolle. Familien, die bereits vor der Krise ein stabiles Familiensystem darstellten, ihre Kinder unterstützen und ein gutes häusliches bzw. räumliches Umfeld haben, kommen besser durch die Pandemie. Für Kinder aus benachteiligten Familien verschärft sich die Situation durch beengte Wohnverhältnisse, fehlende materielle Ressourcen und mangelnde Unterstützungsmöglichkeiten durch die Eltern noch deutlicher. Dabei verschärfen schlechte Lernbedingungen durch Enge oder mangelnde digitale Ausstattung Bildungsbenachteiligung und Teilhabehemmnisse.

Gerade für Familien mit niedrigem Einkommen oder Transferleistungsbezug stellt der Wegfall des kostenlosen Mittagsessen durch die (teilweise) Schließung von Schulen und den eingeschränkten Betrieb von Kitas eine zusätzliche Belastung dar. Darüber hinaus haben sich die Kosten für frische Lebensmittel in der Krise deutlich erhöht.

Darüber hinaus tragen weitere Faktoren zu möglichen Mehrfachbelastungen bei Kindern und Familien bei, wie die Sorge um die berufliche Existenz, Kurzarbeit oder auch die Sorge um die eigen Gesundheit oder die naher Angehöriger.

Pandemiefolgen entschlossen eindämmen

Das Bundeskabinett hat ein 2 Milliarden Euro umfassendes Aufholpaket beschlossen, durch das schulische Lernrückstände von Kindern und Jugendlichen in Folge der Corona-Pandemie ausgeglichen werden sollen. Darüber hinaus zielt das Paket darauf ab, soziale Defizite durch Maßnahmen zur Unterstützung der sozialen Kompetenzen und der Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen zu kompensieren.

Das Deutsche Kinderhilfswerk kritisierte das Paket als „völlig unzureichend“.5 So kann das Aufholpaket der Bundesregierung nur ein Einstieg in eine ganzheitliche Betrachtung der Folgen für Kinder und Jugendliche sowie in eine dauerhafte Stärkung der Jugendhilfe sein.

Beteiligung von Kindern und Jugendlichen stärken

Seit Beginn der Krise haben Kinder und Jugendliche häufig den Eindruck, dass ihre Interessen, Bedarfe und Rechte nur wenig Berücksichtigung und Gehör finden. Sie werden offensichtlich mit ihren Erfahrungen und Forderungen nicht in politische Entscheidungs- und Abwägungsprozesse über Maßnahmen einbezogen. Die Ergebnisse der JuCo-Studie machen dies deutlich. In der zweiten Erhebungswelle hatte sich dieser Eindruck unter jungen Menschen weiter verstärkt. Gaben in der ersten Befragung rund 45% der Befragten an, dass sie gar nicht oder eher nicht den Eindruck hätten, dass ihre Sorgen gehört würden. So waren es in der zweiten Erhebung fast 65%, die ihre Sorgen gar nicht oder eher nicht von der Politik gehört fühlten.6 Dabei können sie als Expertinnen und Experten in eigener Sache wichtige Hinweise zum Alltag junger Menschen in der Corona-Krise liefern sowie Ideen für Maßnahmen zur besseren Berücksichtigung der Kinderrechte bei allen Maßnahmen einbringen. Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Beteiligung – auch in Krisensituationen. Deshalb sollten junge Menschen, ihre Selbstorganisationen und Interessenvertretungen in Entscheidungs-und Abwägungsprozesse einbezogen werden.

II. Feststellungen

  1. Der Landtag stellt fest,
  2. Kinder und Jugendliche werden durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und die dadurch wegfallenden sozialen Angebote aus ihrem gewohnten Alltag und sozialen Umfeld gerissen, was zu einer psychischen Belastung führen kann,
  3. besonders Kinder und Jugendliche, die schon zuvor mit psychischen Erkrankungen belastet waren, sind in der Pandemie eine besonders vulnerable Gruppe.
  4. körperliche Gewalt bleibt auch in der Pandemie eine Gefahr für Kinder und Jugendliche.

III. Beschluss

Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

  1. eine Befragung unter Kindern und Jugendlichen zu beauftragen, um mehr über die aktuelle Situation junger Menschen und ihre Bedarfe zu erfahren.
  2. einen Expertenkreis unter Beteiligung von Wissenschaft, Trägern der Jugendhilfe und Jugendverbänden sowie Jugend- und Elternvertretungen einzuberufen, der sich explizit mit der Lage und den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie befasst.

Studien zur psychischen Belastung von Kindern und Jugendlichen sowie Gewalterfahrungen während der Pandemie zu beauftragen.

  1. einen jährlichen Kinderschutzbericht in NRW zu veröffentlichen.
  2. zu prüfen, wie kurzfristig Angebote der Begleitung und Therapie für Kinder und Jugendliche ausgebaut werden können.
  3. gezielte pädagogische Angebote zur Bearbeitung pandemiebedingter psychosozialer Belastungen zu fördern und auszubauen.
  4. einen Stufenplan für Präsenzangebote in der Kinder- und Jugendarbeit, sowohl für offene Angebote, als auch für die Jugendverbandsarbeit, zu entwickeln.
  5. pandemiegerechte Freizeitangebote, wie Sportkurse oder Jugendtreffs in Freien zu ermöglichen und finanziell zu fördern.
  6. zusätzliche Programme für Kinder-, Jugend- und Familienfreizeiten aufzulegen.
  7. eine öffentlichkeitswirksame Kampagne zur Sensibilisierung der allgemeinen Öffentlichkeit hinsichtlich der verschiedenen Gewaltformen gegen Kinder und Jugendliche mit Verweis auf Hilfsangebote aufzusetzen.
  8. Beratung, Begleitung und Akutschutz für von Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche zu gewährleisten und auszubauen.
  9. neue Formate für mehr Beteiligung junger Menschen zu entwickeln und ihre Erfahrungen und Bedarfe in alle Maßnahmen zur Bewältigung der Pandemie einzubeziehen.
  10. ein NRW-Zukunftsfonds zur Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie bei Kindern und Jugendlichen zu initiieren, der vom Land und den Kommunen getragen wird.

 

1 https://www.uke.de/kliniken-institute/kliniken/kinder-und-jugendpsychiatrie-psychotherapie-und-psychosomatik/forschung/arbeitsgruppen/child-public-health/forschung/copsy-studie.html

2 https://www.uni-hildesheim.de/fb1/institute/institut-fuer-sozial-und-
organisationspaedagogik/forschung/laufende-projekte/juco-und-kico/

3 https://www.barmer.de/gesundheit-verstehen/psychische-erkrankungen/psychisch-erkrankte-kinder-und-jugendliche-291654

4 https://www.forum-transfer.de/fileadmin/uploads/Aktuelles/Jugendamtsbefragung-19-04-2021.pdf

5https://www.dkhw.de/presse/pressemitteilungen/presse-details/deutsches-kinderhilfswerk-kritisiert-corona-aufholpaket-fuer-kinder-als-voellig-unzureichend/

6 https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Familie_und_Bildung/Studie_WB_Das_Leben_von_jungen_Mensch  en_in_der_Corona-Pandemie_2021.pdf