Sigrid Beer: „Es gibt in dieser Coronazeit keine gerechten, vergleichbaren Prüfungen, auch nicht in NRW“

Entwurf der Landesregierung zum Bildungssicherungsgesetz - zweite Lesung

Sigrid Beer (GRÜNE): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wer heute Morgen den Livestream der Schulausschusssitzung gesehen hat, wird sehr gut beurteilen können, wie die Debatte verlaufen ist.
Frau Kollegin Müller-Rech, vielleicht können wir uns auf der Metaebene einigen, dass das Mittel der persönlichen Diskreditierung in der Form, wie Sie es auch gerade in Ihrer Rede versucht haben, nicht gerade politikfreundlich und -förderlich ist.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Ich will mich daran gar nicht lange aufhalten, sondern komme zur Sache zurück. Ich fand es sehr bemerkenswert, dass Frau Karliczek heute angeregt hat, gegebenenfalls die Abiturnoten in diesem Jahr anzuheben. Dieser Vorschlag scheint auch ein Hinweis darauf zu sein, wie fragil und nicht belastbar die Ausgangsvoraussetzungen sind.
In der heutigen Sitzung des Schulausschusses wurde überdeutlich, dass es auf der KMK-Ebene vier unterschiedliche verabredete Regelungen zur Durchführung von Prüfungen und zur Vergabe von Abschlüssen gibt. Es sind vier Szenarien – darunter auch eines, um für den Notfall vorbereitet zu sein, falls Unterricht regulär nicht möglich sein sollte.
Klar wurde auch, dass die Ministerin es versäumt hat, die konkreten Ausgleichsregelungen zu definieren und in den Regelungen zu beschreiben – und das weit vor Ostern und ohne absehen zu können, wie sich das Infektionsgeschehen weiterentwickelt.
Das ist auch heute noch so. Wir wissen nicht, wie sich die Öffnungen im öffentlichen Leben auswirken. Gemeinsam müssen wir inständig hoffen, dass es keine negativen Entwicklungen gibt. Dies würde endgültig alle Pläne zunichtemachen, dass möglichst viele Schülerinnen ihre Schule und ihre Lehrer wiedersehen, was absolut wünschenswert und notwendig ist.
Aber schon jetzt sind die Chancen in den weiterführenden Schulen sehr unterschiedlich. Sie haben nicht die Chancen aller Kinder und Jugendlichen im Blick, wenn Sie durch die Prüfungsvorbereitungen Räume, Zeit und Lehrkräfte binden. Noch einmal verstärkt ist dies an den Gesamtschulen der Fall, wo es zwei Prüfungsjahrgänge gibt.
Mit Blick auf die Schülerinnen muss doch einmal festgehalten werden: Es gibt schon jetzt eine Chancenungleichheit hinsichtlich der Vorbereitung im Distanzlernen – jetzt durch die unterschiedlichen Angebote der Schulen, durch die real bestehenden Unterrichtsbedingungen.
(Josef Hovenjürgen [CDU]: Vorher gab es die nicht? Sigrid Beer, das ist doch peinlich!)
–  Jetzt. Es gibt in dieser Coronazeit keine gerechten, vergleichbaren Prüfungen, auch nicht in NRW.
Auch zwischen den Ländern gibt es Disparitäten. (Josef Hovenjürgen [CDU]: Peinlich, peinlich!)
Das ist zum Beispiel aufgrund unterschiedlicher Zeitpläne der Fall. Zum Teil war das Abitur schon zu Beginn der Coronakrise weitgehend erledigt; zum Teil steht es erst im Sommer an.
(Josef Hovenjürgen [CDU]: Das ist doch unerträglich!)
Für den Kita-Bereich hieß es heute Morgen: Rahmensetzung und gegebenenfalls passgenaue Schritte in den Ländern. – Für die Schule soll das nicht gelten.
Wer auf die Sondersituation, die das Leben aller Beteiligten erschüttert hat, mit Prüfungen reagiert, hat aus unserer Sicht die Bildungsaufgabe nicht im Blick und nicht richtig verstanden.
Die Abschlüsse in diesem Jahr ohne eine zentrale Klausur zu vergeben, stellt das Prinzip der Standardsicherung in der Strategie der KMK nicht infrage.
(Franziska Müller-Rech [FDP]: Doch! Genau das!)
Wie bei den 10er-Regelungen wären auch für das Abitur Ausgleichsregelungen denkbar und machbar.
(Helmut Seifen [AfD]: Nein!)
Das bewusste Missinterpretieren des gemeinsamen Impulspapiers der Grünen ändert daran nichts, Frau Kollegin;
(Zuruf von Franziska Müller-Rech [FDP])
denn es schließt solche möglichen KMK-Regelungen, wie wir sie heute Morgen gehört haben, ausdrücklich ein.
(Franziska Müller-Rech [FDP]: Überhaupt nicht!)
Wir haben es in dieser Krise in der Tat an jeder Stelle mit einer politischen Güterabwägung zu tun.
Diese Güterabwägung formulieren namhafte Erziehungswissenschaftlerinnen und Pädagoginnen in einer Petition an den Bundestag so: Es sind
„Strukturen und Prozesse zu schaffen, die Schülerinnen und Schüler psychisch und sozial entlasten. … Leistungsdruck und Angst dürfen in den nächsten Monaten nicht den Unterricht und das Leben der Schülerinnen … bestimmen, nur um die herkömmlichen Übergänge im Bildungssystem in herkömmlicher Form zu sichern.“
Das ist deren Appell.
Sie treffen diese Güterabwägung anders. Das nehmen wir zur Kenntnis. Aber bitte verabschieden Sie sich von der Erzählung, es laufe ja alles gut. Denn das, was läuft, ist am wenigsten Ihr Verdienst.
Das macht nicht nur das Schreiben der kommunalen Spitzenverbände vom 27. April 2020 deutlich: Bis heute sind noch ganz viele Dinge im Unklaren.
Es wird auch durch das intensive Schreiben der Schulleitungsvereinigung die Grundschulsituation betreffend deutlich. Ich will daraus zitieren:
„Die Telefone laufen bei der Schulleitungsvereinigung NRW heiß, die E-Mail-Fächer laufen über, weil wir inzwischen mit verzweifelten Schulleitungen zu tun haben, die am Rand Ihrer Kräfte sind.“
(Helmut Seifen [AfD]: Ach!)
„Diese Schulleitungen reiben sich für ihre Systeme auf, versuchen in dieser Krise so gut es geht zu handeln.“
(Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])
Heute gab es dann um 13:13 Uhr eine Schulmail bezüglich der Grundschulplanung. Aber auch dort: viele Unwägbarkeiten, nur Rahmeneckpunkte und viel Ungeklärtes.
Wir treffen unsere Güterabwägung in Bezug auf die Prüfungen und die Bildungsprozesse anders. Wir setzen unseren Schwerpunkt auf die Bildung.
(Helmut Seifen [AfD]: Eben nicht!)
Deshalb legen wir gleich auch den Änderungsantrag vor.
In unveränderter Form können wir dem Gesetz nicht zustimmen. Das bedaure ich außerordentlich. Aber wenigstens die Notfalloption hätte mit aufgenommen werden können.
Wir haben Ihren politischen Willen zur Kenntnis genommen, die Prüfungen so durchzuführen. In der Güterabwägung halten wir dies nicht für richtig. Das habe ich dargelegt. Ich bitte, das genau so zu respektieren.
(Josef Hovenjürgen [CDU]: Den Respekt habe ich bei Ihnen bei Twitter nicht gesehen!)
Das nimmt Schülerinnen und Schüler ernst, es nimmt die Schulen ernst, es nimmt die Besorgnisse in den Schulen ernst, und es nimmt die organisatorischen Herausforderungen in den Schulen ernst.
Deswegen weiß ich nicht, ob die Ausführungen und die Tonlage, die Sie hier eben präsentiert haben, der Sache auch gerecht geworden sind. – Danke schön.
(Beifall von den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Es gibt eine Kurzintervention aus den Reihen der SPD. Der Abgeordnete Ott hat das Wort. Bitte schön.
(Franziska Müller-Rech [FDP]: Ach, kommt jetzt wieder eine Stützfrage? – Gegenruf von Sarah Philipp [SPD]: Erst einmal abwarten und zuhören und dann vielleicht kommentieren!)

Jochen Ott (SPD): Danke schön. – Frau Beer, ich möchte Ihnen aus dem eben zitierten Schreiben der Schulleitungsvereinigung noch zusätzlich etwas vorlesen. Dort heißt es nämlich:
„Wir Schulleitungen erfahren aus Presse und Fernsehen, welche Pläne Sie verfolgen. Zunächst heißt es, der Schulstart für die Viertklässler ist am 4. Mai 2020. Nun hören wir aus dem Radio, dass der Schulstart am 9. Mai sein wird. Wann wollen Sie eigentlich die Schulen informieren?“
Ein weiteres Schreiben kam gestern Abend von den Schulleitungen der Grundschulen in Frechen, die sich massiv darüber beschweren, dass sie als Schulleitungen so dargestellt werden, als hätten sie zu Hause die ganze Zeit die Füße hochgelegt. Sie schreiben:
Wir planen ohne Ihre Vorgaben – Planung mit sehr vielen Unbekannten, die bis heute nicht geklärt sind. Eltern, Kollegien, Schulleitungen brauchen verlässliche Informationen. Informationen seitens des Ministeriums werden entweder zu unmöglichen Uhrzeiten mit kurzfristigen Reaktionszeiten geliefert oder erst nach dem Gültigkeitsbeginn. Wichtige Informationen müssen wir teilweise der Presse entnehmen oder gar selber auf die Suche gehen – zum Beispiel die erweiterten Berufsfelder für die Notbetreuung, Beendigung der Notbetreuung an Wochenenden, aktuelle Informationen zum Wiederbeginn des Unterrichts.
Wir bekommen laufend Dutzende von Schreiben. Liebe Sigi Beer, sind diese Schreiben alle von SPD und Grünen angestachelt? Haben wir uns verständigt, die Eltern, die Schulleiter und die Lehrerinnen und Lehrer zu bitten, das zu schreiben?
Ich nehme die Antwort für mich vorweg. Man sieht einfach, dass Sie als Landesregierung gar nicht zur Kenntnis nehmen, was in diesem Land los ist. Dass Sie das der Frau Beer vorwerfen, ist nicht in Ordnung. Deshalb wollte ich diese Kurzintervention machen, um das deutlich zu machen. Ich möchte Frau Beer auch noch fragen: Haben Sie es auch so verstanden wie ich, dass heute im Ausschuss definitiv erklärt wurde: Den Notfall wird es nicht geben.
Das war für mich der Anlass, warum ich gesagt habe: Das ist ein Punkt, bei dem man noch einmal seine eigene Position sehr klar machen muss, damit deutlich wird, dass das nicht unsere Vorstellung von vorsorgender Politik ist.

Sigrid Beer (GRÜNE): Danke, Herr Kollege Ott, für die Kurzintervention. Ich will darauf antworten, dass diese besorgniserregenden Äußerungen von allen Seiten kommen. Wenn die Ministerin hier erzählt, dass doch alles immer so gut laufe und so gut vorbereitet sei, dann habe ich das eben in einem kurzen Satz schon dargestellt: Das ist nicht ihr Verdienst.
Die Kommunen haben es gestemmt mit all den Fragen. Die Schulen haben es vor Ort gestemmt.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Und Sie stemmen es im Augenblick. Ich habe das gestern mit dem Dankeschön sehr deutlich gemacht.
Ja, in den Zuschriften beklagen sich alle und sind verbittert über die Informationspolitik. Ich habe Schreiben, in denen steht: Seit 20 Jahren hat es ein solches Chaos nicht gegeben. Das habe ich noch nicht erlebt in meiner Dienstzeit.
(Franziska Müller-Rech [FDP]: Thema Inklusion: die Schule des gemeinsamen Lebens!)
Ich habe in den letzten 20 Jahren nicht erlebt, was sich hier jetzt abspielt. – Ich kann es Ihnen gerne zugänglich machen. Und dann die Sorgen der Eltern und der Schülerinnen und Schüler: Sie fühlen sich in keinster Weise ernst genommen.
Viele Fragen sind offengeblieben, auch bezüglich der Ausbildungs- und Prüfungsordnungen. Wir haben heute früh vereinbart, dass wir das durchgeben und mit auf den Weg geben. Wir haben aber auch noch viele Detailfragen, weil so viel ungeregelt ist. Da nützen auch zwei dürre Worte zum Sportabitur nichts. Allein aus den Rückmeldungen zum Thema „Sportabitur“ kann ich Ihnen ein ganzes Buch schreiben. Ich kann Ihnen ein ganzes Buch aus den Fragen vorlegen, die zu Detailgeschichten abzuarbeiten sind.
Ich gestehe Ihnen zu: Ja, in der Krise kann nicht alles zu 100 % geregelt werden. Aber alle Optionen offenzuhalten, damit man alle Handlungsmöglichkeiten hat, das ist Ihre politische Pflicht. Und der kommen Sie nicht nach.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)