Sigrid Beer: „Eine Ganztagsschule muss ein Lebens- und Lernort sein, der Vertrauen, Sicherheit und Geborgenheit bietet“

Aktuelle Stunde auf Antrag der SPD-Fraktion zur Ganztagsbetreuung

Sigrid Beer (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ja, wir wollen ein Recht auf den Ganztag. Wir wollen ein Recht auf einen hochwertigen Ganztag. Denn eine Ganztagsschule muss ein Lebens- und Lernort sein, der Vertrauen, Sicherheit und Geborgenheit bietet. Das gilt besonders für jüngere Kinder, aber auch für Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I.
Wichtig sind die Qualität der Beziehungen, die Qualität des Raums und die Zeitgestaltung – also die Rhythmisierung von Konzentration, Anstrengung und Entspannung. Und es ist auch wichtig, dass es in einer Ganztagsschule Freiräume gibt.
(Beifall von Josefine Paul [GRÜNE] und Jochen Ott [SPD])
–  Ja, Herr Rock … – Nein, Herr Rock applaudiert nicht, sondern Herr Ott. Danke schön.
(Jochen Ott [SPD]: Ich bin’s! – Heiterkeit von der SPD)
Der Ganztag bietet …
(Jochen Ott [SPD]: Herr Rock wollte, er konnte es nur nicht zeigen!)
–  Ja, der Pädagoge hätte jetzt gesagt, Herr Rock hätte applaudieren müssen. Aber das geht ideologisch nicht; das ist klar.
(Zuruf von der AfD)
Der Ganztag bietet vielfältige Chancen, um die Selbstwirksamkeit zu stärken und um Gemeinschaft zu erleben und zu pflegen. Er ist Entwicklungsraum und kann Ansporn, Ermutigung und Herausforderung für formelles und informelles Lernen bieten. Er ist ein Raum, in dem sich Kinder erproben dürfen und ihre Kreativität entwickeln und erleben können.
Deswegen kann die Ganztagsschule eine Schule sein, die dem einzelnen Kind in besonderer Weise gerecht wird. Wer Ganztag so denkt und attraktiv gestaltet, der weiß: Der Ganztag ist eine Chance für alle Kinder; ein Ort der Begabungsförderung und des Lernens von Gemeinschaft, Empathie und nicht zuletzt Demokratiebildung.
Wer in diesem Sinne andere Lernformen und eine an den Schülerinnen und Schülern orientierte Rhythmisierung verwirklichen möchte, muss die klassische Trennung der unterschiedlichen Bildungsbereiche Unterricht und Betreuung überwinden und sie zusammenführen.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Das ist im gebundenen Ganztag übrigens leichter möglich, gilt aber auch für die offene Ganztagsschule mit ihren vielfältigen Partnern.
Auch in offenen Formaten braucht es eine stärkere Verzahnung von Schule und Ganztag. Das gilt für die Inhalte, für die Teamarbeit der multiprofessionellen Fachkräfte und für ein gemeinsam nutzbares Raumkonzept. Und ganz klar ist: Offene Ganztagsangebote sind Bildungsangebote. Das muss auch festgeschrieben werden.
(Beifall von den GRÜNEN)
Es braucht eine gute pädagogische Qualität der Beschäftigten, und es braucht eine gute Abstimmung mit den Kollegien und den Schulleitungen – einschließlich ihrer Verankerung in der Schulkonferenz.
Kulturelle Bildung, Bewegung, erweiterte Sportangebote sowie musisch-ästhetische Bildung und genügend Zeit und Raum für die kreative Entwicklung – all das gehört zur Ganztagsschule ebenso wie die Öffnung der Schule und die konsequente individuelle Förderung. Denn es geht um eine ganzheitliche Entwicklung der Persönlichkeit, die sich an den Potenzialen der Kinder orientiert.
Vielfältige Formen der Partizipation legen das Fundament einer funktionsfähigen Demokratie. Das geht in der Kita los und muss in der Grundschule und in den weiterführenden Schulen fortgeschrieben werden.
(Beifall von Josefine Paul [GRÜNE])
Deshalb ist es nur folgerichtig und notwendig, wenn der Bund jetzt seiner Verantwortung nachkommt und in die Finanzierung geht. Diese Finanzierung muss nachhaltig und kontinuierlich gesichert sein. Es geht nicht um einmalige Investitionen – ich hoffe, dass das hier gemeinsam getragen wird.
Die Qualität einer Ganztagsschule darf nicht abhängig sein von der Finanzkraft einer Kommune. Deswegen brauchen wir Qualitätsstandards. Das gilt für die Räume, das gilt für die Möglichkeit der Küche und der Mensa, das gilt für die Aufenthaltsqualität, aber das gilt natürlich auch für die Fachkräfte und deren Qualifikation.
Deswegen haben wir vorgeschlagen, auch für die OGS jetzt schon pro Gruppe eine Fachkraftzuweisung vom Land aus vorzunehmen. Im Moment müssen die Träger in jedem Jahr auf die Dynamisierung warten und bangen, ob sie denn kommt. Man sollte lieber stärker in solche Parameter investieren, die einen Qualitätsstandard beschreiben und unabhängig von der Finanzkraft einer Kommune Sicherheit geben.
(Beifall von den GRÜNEN)
Denn wir wissen ja, dass die Dynamisierung leider häufig bei den Kommunen ein Nullsummenspiel auslöst, weil damit eigene Anteile kompensiert werden.
Wie das Land muss auch der Bund über die Investitionen hinaus in die Pflicht genommen werden – eben für die Fachkräfte. Und wir brauchen auch eine Fachkräfteoffensive, an welcher der Bund sich beteiligt.
Ein guter Ganztag ist ein Ganztag für alle Kinder, also ein inklusiver Ganztag. Das heißt, die besonderen Bedarfe durch die Umsetzung des Bildungs- und Teilhabegesetzes 2020 müssen mitgedacht werden. Es kann nicht sein, dass jeweils um die Inklusionsassistenz gerungen werden muss – gerade für den Bereich des Ganztags –, wie wir es jetzt vielfach noch erleben. Die Zahl der Petitionen spricht da eine deutliche Sprache.
Und der Ganztagsanspruch muss bedarfsunabhängig sein, sodass die zeitliche Verfügbarkeit von Eltern – ob in Elternzeit oder arbeitslos – nicht dazu führt, dass sie erst nachrangig einen Platz bekommen. Auch das ist sehr wichtig; denn dieses Bildungsangebot darf nicht zurückgefahren werden, wenn Eltern in einer besonderen Situation sind.
(Beifall von Josefine Paul [GRÜNE] und Jochen Ott [SPD])
Es muss auch in den Randzeiten und Ferienzeiten Verlässlichkeit gegeben sein. Da muss es wirklich zusätzliche Betreuungsangebote und erweiterte Bildungsangebote geben.
Was nicht passieren darf, ist, dass sich jetzt alle mit gegenseitigem Schulterklopfen Programme auf die Fahnen schreiben, die dann letztlich in der Finanzierung bei den Kommunen hängen bleiben.
(Jochen Ott [SPD]: So ist es!)
Das muss unser gemeinsames Bemühen sein; denn wir brauchen eine realistische Bedarfsplanung und Kostenanalyse. – Ich sage nur: U3 lässt grüßen. Da sind die Bedarfe vorher auch nicht angemessen antizipiert worden.
(Jochen Ott [SPD]: Richtig!)
Wir wollen einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz in den Grundschulen. Aber denken wir auch die Sekundarstufe mit, mindestens bis zur Klasse 6. Es ist für Eltern nicht einsehbar, dass die Betreuung ihrer Kinder in einer guten Bildungseinrichtung nur bis zum Eintritt in die Grundschule gesichert ist, denn jetzt haben wir schon die Brüche von der Kita bis in die Grundschule hinein. Ja, wir brauchen das auch für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Dann müssen wir uns neben der Qualität natürlich auch über die Beiträge in der OGS klarwerden. Denn es kann nicht sein, dass das neben den gebundenen Ganztagsangeboten, die kostenlos für die Eltern sind, steht und auf der anderen Seite Beiträge erhoben werden, während in der Kita-Finanzierung die Beitragsfreiheit weiter ausgebaut wird. Das passt nicht zusammen.
Viele Aufgaben! Deswegen lassen Sie uns hier zusammen überlegen. Das sind die Hausaufgaben, die jetzt alle Beteiligten zu machen haben. – Danke schön.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Der zweite Redebeitrag zu diesem Tagesordnungspunkt von
Sigrid Beer (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst dachte ich: Es ist schon alles gesagt; vor allen Dingen das Wichtige, das bei uns gemeinsam vorhanden ist. Wir müssen darauf achten, dass es sich nicht um einen nur einmalig zur Verfügung gestellten Betrag handelt, dass die Kommunen nicht belastet werden
 (Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: So ist es!)
und dass wir die inhaltlichen Punkte gemeinsam diskutieren und festlegen.
Was Herr Rock gerade gesagt hat, hat mich dazu bewogen, noch einmal zu reden. Politische Mechanik, Herr Rock, funktioniert ein wenig anders.
(Zuruf)
Es ist noch einmal wichtig, zu betonen: Warum haben wir überhaupt die Möglichkeit der Einbringung über das SGB VIII? – Die Grundgesetzöffnung, die erreicht worden ist, öffnet nur ganz bestimmte Fenster, und darüber funktioniert das jetzt. Deswegen müssen wir daran arbeiten, dass das Ganze nicht zu eng auf eine Betreuung zuläuft, sondern dass ein Bildungsbegriff dahintersteht.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Es geht hier um einen politischen Schulterschluss, um auf den unterschiedlichen Kanälen Druck zu erzeugen. Sie sind genauso an der Bundesregierung beteiligt wie die SPD. Unsere Fraktionen sind – das weiß ich von der FDP, das weiß ich auch von unserer Fraktion – auf der Bundesebene bemüht, entsprechend zu wirken, obwohl es noch keinen runden Tisch aller Akteure gibt. Das ist noch nicht so reif.
Natürlich finden Gespräche mit dem Bund auf der Ebene der Verwaltung, der Administration, statt. Allerdings sind diejenigen, die darüber hinaus ein Interesse haben, beispielsweise unsere Kommunen, noch nicht berücksichtigt. Das gilt auch für die Fragen der anderen Träger. Dazu gehört es auch, die Finanzströme endlich nebeneinander zu denken sowie die Berührungspunkte zwischen Schule, Jugendhilfe und anderen Kapiteln zu sehen. Deswegen ist es so wichtig, all die Positionen gemeinsam zu beschreiben, wenn wir unsere Akteure im Land politisch stärken wollen.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Herr Rock, was Sie hier gerade dargestellt haben, würde bedeuten: Wir schauen mal, was dabei rauskommt, und das nehmen wir. Dann müssen wir uns daraus etwas zurechtbasteln. Das kann es nicht sein. Das ist ein anderer Anspruch als der, den wir hier im Parlament gemeinsam haben. Genau darum geht es aber, und deshalb war wichtig, das noch einmal zu sagen. Wir wissen jetzt, wie die Gespräche laufen sollen – das ist so weit schon mal ganz gut –; trotzdem müssen sie erweitert werden.
Wie gesagt, wir sind bereit, dieses Thema auch über unsere Kanäle politisch zu stärken. Dann müssen wir aber mit einer gemeinsamen Ansage aus Nordrhein-Westfalen all diejenigen stärken, die in die Verhandlungen auf der Bundesebene gehen. Das ist guter Föderalismus.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

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