Sigrid Beer: „Die Schulformempfehlung ist als prognostisches Mittel untauglich“

Zum Antrag der "AfD" zu Bildungsgerechtigkeit

Sigrid Beer (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es hat ein bisschen gedauert, bis die parlamentarischen Einlassungen der AfD in Schleswig-Holstein und in Rheinland-Pfalz Eingang in einen Antrag gefunden haben, den die AfD-Fraktion hier vorgelegt hat.

(Zuruf von Helmut Seifen [AfD])

Das ist also eine recycelte NRW-Version der schon gescheiterten Anträge anderer AfD-Fraktionen. Ich prognostiziere: Bei diesem Scheitern wird es in NRW bleiben.

(Zuruf von Helmut Seifen [AfD])

Restaurative Anträge und die Vorstellung, mit der Wiederbelebung des ständischen Schulsystems aus dem letzten Jahrtausend könnten die Herausforderungen für eine Bildung für die Zukunft gemeistert werden, gehen in die Irre.

(Beifall von den GRÜNEN)

Was wir schon gar nicht brauchen, ist die Fiktion von einer kulturellen und sozialen Homogenität. Das Entfalten aller Potenziale wird so nicht gelingen. Diese Gesellschaft braucht jede und jeden. Den Menschen in ihrer Vielfalt mit gleicher Wertschätzung zu begegnen, sie nicht in Schubladen zu stecken und nicht zu versuchen, sie in diesen Schubladen soziokulturell zu sortieren, sind die Aufgabe und die Verpflichtung in diesem Schulsystem.

Nicht nur in einer Studie des Bundesministeriums wird klar zusammengeführt, dass die Klassenzusammensetzung und die ethnische und soziale Herkunft einen viel größeren Einfluss auf die Grundschulempfehlung haben als die Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler. In wissenschaftlichen Studien ist hinlänglich beschrieben, dass Kinder mit Migrationshintergrund bzw. aus bestimmten sozialen Lagen häufig mehr Leistung erbringen müssen, um bestimmte Noten zu erhalten. Zu Recht werden die Aussagekraft und die Wirksamkeit von Grundschulempfehlungen kritisch reflektiert, und das auch von Grundschullehrkräften und den Grundschulverbänden selbst.

Übrigens sehen gerade Gesamtschulleitungen bei den jährlichen Anmeldungen gleiche Notenbilder, die zu unterschiedlichen Schulformempfehlungen führen. Wenn man dem nachgeht, sieht man: Das hat häufig etwas mit der sozialen Lage der Familie und der Frage, ob ein Migrationshintergrund besteht, zu tun.

Schon im Jahr 2009 haben übrigens die Gesamtschulen eine Untersuchung dazu vorgelegt, mit welchen Übergangsempfehlungen Schülerinnen und Schüler zu ihnen gekommen sind und welche Abschlüsse sie in ihren Bildungslaufbahnen unter den Bedingungen zentraler Abschlussprüfungen erreicht haben.

Diese Untersuchung ist im Jahr 2020 wiederholt worden und hat zu grundsätzlich ähnlichen Ergebnissen geführt.

Im Jahr 2020 hatten lediglich 21 % der Abiturienten und Abiturientinnen ursprünglich eine Gymnasialempfehlung und 79 % eine Hauptschul- oder Realschulempfehlung. Schülerinnen mit Migrationshintergrund wurden durch die Empfehlung sogar noch stärker benachteiligt. Lediglich 11 % der Abiturientinnen wurde zuvor eine Gymnasialempfehlung erteilt.

Auch die Schülerinnen und Schüler, die von Gymnasien abgeschult wurden, erreichten zu 47 % entgegen der Prognose der Gymnasien dann doch noch das Abitur.

Durch diese Studie wird ein weiteres Mal belegt, dass die Schulformempfehlung als prognostisches Mittel untauglich ist, der Übergang von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen immer noch sozial selektiv ist und Schülerinnen aus sozial nicht privilegierten Schichten benachteiligt werden.

An integrierten Schulen werden leistungsschwächere Schüler*innen in heterogenen Lerngruppen stärker gefördert, ohne leistungsstarke Schüler*innen zu hemmen. Sie kommen dort zu einem Bildungserfolg. Das heißt nicht, dass alle das Abitur machen müssen, aber, dass die Bildungslaufbahnen für alle offengehalten werden und ihr bestmöglicher Bildungserfolg realisiert werden kann.

Der Bildungsforscher Jürgen Baumert hat in seinen Forschungsbeiträgen zu den differenziellen Lernmilieus einzelner Schulformen zum Beispiel gerade in Bezug auf die Mathematikleistungen belegt, dass die Kompetenzentwicklung bei gleichen kognitiven Grundfähigkeiten und gleicher Schichtzugehörigkeit in Abhängigkeit von der besuchten Schulform sehr unterschiedlich erfolgt.

Wenn sich etwas bei der engen Koppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg bewegen und die bestehende Chancenungleichheit sich nicht weiter verfestigen soll, brauchen wir vor allem eine substantielle Unterstützung der Grundschulen, nicht nur an den schwierigen Standorten, aber besonders dort, und einen substantiell ausgestatteten Sozialindex, der die Schulen, die die vorwiegend kompensatorische Arbeit, die notwendig ist, leisten, auch wirklich unterstützt, sodass diese Schulen nicht untereinander um Ressourcen ringen müssen.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

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