Sigrid Beer: „Die Schulentwicklung darf nicht zurückgedreht werden!“

Gesetzentwurf der Landesregierung zur Neuregelung der Dauer der Bildungsgänge im Gymnasium

Sigrid Beer (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Alle Parteien, alle Fraktionen haben schon vor der Landtagswahl hier im Plenum deutlich gemacht, dass es sicherlich zu Veränderungen im Zusammenhang mit der Frage nach G8 oder G9 kommen würde. Jede Landesregierung hätte Veränderungen vorgenommen und vornehmen müssen, weil Eltern, Schülerinnen und Schüler und auch Lehrkräfte dokumentiert haben, dass mit dem Beibehalten von G8 kein Schulfrieden in die Gymnasien einziehen würde.
Die Grundakzeptanz für G8 konnte über die Zeit auch nach vielen Bemühungen nicht erreicht werden. Wir haben auch am runden Tisch sehr deutlich wahrnehmen müssen, dass die Gymnasialverbände, die für den Erhalt von G8 als Gymnasialprofil votiert und geworben haben, die Eltern, die Schülerinnen und Schüler und auch einen großen Teil ihrer Kollegen und Kolleginnen nicht mehr hinter sich haben. Deswegen ist es richtig, politische Konsequenzen daraus zu ziehen. Deswegen ist es richtig, umzusteuern und die Zeit am Gymnasium wieder auf neun Jahre zu erweitern.
Wir begrüßen deshalb, dass die Landesregierung eine Leitentscheidung für die Schulen beschlossen hat, aber – ich will das hier noch einmal sehr deutlich sagen – eine Leitentscheidung muss auch eine Leitentscheidung sein. Wir bleiben dabei, Herr Kollege Rock, dass wir die Option, dass Schulen bei G8 bleiben dürfen, für fachlich falsch halten; ich habe das im Ausschuss auch noch mal betont. Es ist ja nur eine Scheinfreiheit. Gymnasien im ländlichen Raum werden diese Option gar nicht haben. Dort besteht für Schülerinnen und Schüler keine Wahlmöglichkeit, weil ein anderes Gymnasium viel zu weit entfernt ist.
Herr Rock, Sie haben auch auf den Schulversuch mit den G9-Gymnasien hingewiesen. Das ist aber ein ganz anderes Setting, weil wir immer schon die Gesamtschulen mit G9 hatten. Dort mit den Lehrplänen und Curricula zu arbeiten, ist eine ganz andere Aufgabe, als für diesen Bildungsgang die Curricula zu pflegen. Wir werden es noch erleben: Es wird nur eine Handvoll G8-Gymnasien geben.
Überhaupt sind noch sehr viele Fragen offen: Was bedeutet das dann für den mittleren Bildungsabschluss am G8-Gymnasium? Wie wird das gestaltet? Was bedeutet das für die Sprachenfolge am G8? Darüber haben wir überhaupt noch keine Auskunft erhalten. Deswegen halten wir diese Geschichte nicht für belastbar.
Frau Kollegin Müller-Rech, wenn Sie von Liberalität und Freiheit reden, wäre es viel besser gewesen, die pädagogischen Freiheiten zu stärken und zu sagen: Wir treffen eine Leitentscheidung, und innerhalb des Rahmens von G9 sind die individuellen Lernzeiten zu unterstützen, gibt es pädagogische Freiheit in jahrgangsübergreifenden Settings und können in der Oberstufe Reformen angesetzt werden, um die Möglichkeiten des individuellen Lernens und der individuellen Lernbiografie zu gestalten. Das wäre der richtige Weg, das wäre zielführend.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall von der SPD)
Das war im Übrigen auch die überwiegende Empfehlung in der Anhörung. Es ist bedauerlich, dass Sie sich keinen Ruck geben konnten, den Gesetzentwurf entsprechend zu überarbeiten.
Viele Probleme bleiben ungelöst, gerade wegen dieser Option. Wie sieht es mit den Schülerfahrtkosten aus? Was bedeutet das in Zukunft für das Recht der Eltern, die gymnasiale Form auswählen zu dürfen?
Wir begrüßen noch weitere Elemente – Frau Ministerin, das sage ich ausdrücklich –, zum Beispiel, dass wieder der mittlere Bildungsabschluss am Gymnasium möglich ist und dass die Teilnahme an den zentralen Prüfungen vorgesehen ist. Das sind für uns ganz wesentliche Bedingungen.
Wegen der Notwendigkeit einer grundlegenden Entscheidung und weil wir es für richtig halten, dass der Weg der Erweiterung der Gymnasialzeit gegangen wird, werden wir diesen Gesetzentwurf heute nicht ablehnen, aber wir werden uns dazu enthalten.
Was das Befürworten angeht, so wäre dies an dieser Stelle ein Schritt zu weit. Denn viele Dinge, bei denen wirklich die Musik spielt und über die wir unterhalb dieses Schulgesetzes miteinander beraten werden und wo wir genau auf die sensiblen Punkte achten werden, wer- den wir erst noch auf den Tisch des Hauses bekommen. Ich will sagen, dass wir das sehr kritisch begleiten wollen.
Denn wenn ich nur die wichtigsten Punkte herausnehme: Der mittlere Bildungsabschluss wird am Gymnasium möglich. Was heißt das für die Frage des Abschulens? Wenn Lernfreiheiten vorhanden sind, dann sind aus unserer Sicht alle Kinder, die am Gymnasium aufgenommen werden, bis zu einem ersten Schulabschluss zu führen und nicht nach der Klasse 6 wieder an integrierte Schulen oder andere zu verteilen.
Darüber werden wir reden müssen. Denn das ist die Verantwortung – wir haben es „Kultur des Behaltens“ genannt – der Schulen. Sie haben erweiterte Zeitbudgets, um die individuelle Förderung entsprechend zu gestalten.
Das Thema „Lehrerversorgung“ wird überhaupt nicht angegangen; auch im Wissenschaftsausschuss dazu noch keine Initiativen seitens der Landesregierung!
(Ministerin Yvonne Gebauer hustet.)
– Das hat nichts damit zu tun, dass die Ministerin an dieser Stelle hustet, nein? – Die Lehrerversorgung werden wir uns mit Blick auf all die entscheidenden Dinge anschauen; denn da muss etwas passieren. Das ist nicht damit geregelt, dass es in der Sekundarstufe II im Augenblick noch genügend Kapazitäten geben könnte; das müssen wir uns zwar erst einmal anschauen, aber sicherlich brauchen wir zusätzliche Lehrerinnen und Lehrer. Ich sehe, dass keine parallelen Anstrengungen von der Landesregierung unternommen werden.
Zum Thema „Konnexität“ – der Kollege Ott hat es angesprochen –: Frau Müller-Rech, mit den 531 Millionen € haben wir eine erste Grundlage.
(Jochen Ott [SPD]: Dabei wird es nicht bleiben!)
Ob die ausreichen werden? Meine Heimatstadt Paderborn kann im Augenblick noch keine Prognose abgeben.
Zu dem Vorschlag, den Kommunen die Mittel in Tranchen zur Verfügung zu stellen: Nein, die Räumlichkeiten müssen da sein, wenn die Schülerinnen und Schüler da sind. Fragen wie die nach der Übergangsquote zum Gymnasium werden wir hier noch diskutieren. Ich gebe die Prognose ab, dass die kommunalen Spitzenverbände mit der angedachten Mittelvergabe nicht damit einverstanden sein werden und wir über die Frage der Konnexität weiterhin reden müssen.
Zum Schluss ein für mich wichtiger Punkt: Die Schulentwicklung darf nicht zurückgedreht werden! Dabei geht es um den Ganztag, dabei geht es um die Inklusion; darüber werden wir morgen reden. Es geht auch um reformpädagogische Modelle, und es geht um das, was wir am runden Tisch miteinander besprochen haben: Kann man zum Beispiel außerschulische Leistungen anerkennen? Das darf uns gerade für ganz bestimmte Begabungsprofile auf dem Gebiet der Musik, des Sports und an anderer Stelle nicht verloren gehen.
Abschließend möchte ich auf einen bemerkenswerten Artikel aufmerksam machen, der im „SPIEGEL“ vom 30. Juni 2018 erschienen ist. Dort haben Julian Nida-Rümelin, Manfred Prenzel und Klaus Zierer einen Appell formuliert, der sich auf die Inhalte von Schule bezieht. Daraus möchte ich zitieren:
„Aktuelle Lehrpläne bereiten nicht auf das vor, was wir heute schon wissen – und auch nicht auf das, was wir heute nicht wissen können. Sie bereiten auf das vor, was gestern wichtig war. Die nachwachsenden Generationen brauchen nicht nur Fachwissen, sondern auch Denkweisen, nicht nur die Tiefe in einem Fach, sondern auch die Verknüpfung der Fächer, nicht nur Expertentum, sondern auch Kreativität, nicht nur egozentrisches Leis- tungsstreben, sondern auch eine respektvolle und ethische Haltung gegenüber der Mit- und Umwelt.“
Die Schlüsselfragen, die Wolfgang Klafki schon beschrieben hat, nämlich den Blick zu richten auf Umwelt, auf Mitwelt, auf das soziale Miteinander, müssen wir neu in der Schule aufrufen. Dazu gehört auch politische Bildung. In diesem Sinne werden wir uns gleich der Stimme enthalten und den weiteren Prozess sehr kritisch begleiten.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

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