Sigrid Beer: „Das geht auf Kosten der Kinder und Jugendlichen, auf Kosten der Familien und der Lehrkräfte“

Zum Antrag der GRÜNEN im Landtag für die Unterstützung von Schüler*innen in der Pandemie

Sigrid Beer (GRÜNE): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns in der Wertschätzung dessen einig, was Kinder und Jugendliche an Verantwortung übernommen haben, was sie in dieser Situation tragen.

Wir sind uns einig in dem Dank an diejenigen in den Schulen, an die Schulträger, die die Situation meistern und die Herausforderungen stemmen; das ist auf jeden Fall so. Damit sind wir dann aber auch schon am Ende der Übereinstimmung angelangt.

Die Annahmen, die dem Gesetzentwurf und seiner Begründung zugrunde liegen, stimmen einfach nicht. Sie entsprechen in der Realität weder der Quantität noch der Qualität des tatsächlich erteilten Präsenz‑ und Distanzunterrichts.

Der Gesetzentwurf taugt auch nicht wirklich, um diese Nachteile auszugleichen und aufzufangen, obwohl er bei der Einbringung verbaselt worden ist. Dieser Gesetzentwurf ist doch viel zu spät im Parlament gelandet, und dann noch nicht mal auf dem aktuellen Stand. Das finde ich besonders bedauerlich.

(Beifall von Frank Müller [SPD])

Nicht nur die Begründung zu § 50 Abs. 6 belegt das. Eine Rückkehr in den Präsenzunterricht sei für alle Schülerinnen und Schüler spätestens nach den Osterferien zu erwarten; das steht tatsächlich noch immer in dem Text, den Sie nicht verändert haben.

Diese eklatante Fehleinschätzung, die den gesamten Gesetzentwurf durchzieht, haben CDU und FDP – von der Ministerin erwarte ich das eigentlich gar nicht mehr – nicht zur Revision des Gesetzentwurfs veranlasst.

In der Anhörung wurde unisono vorgetragen und eindringlich appelliert, nicht an den zentralen Abschlussprüfungen im Jahrgang 10 festzuhalten. Offensichtlich wurde das überhört. An diesem Beispiel will ich auch deutlich machen, dass Sie sich längst von der Realität in den Schulen in NRW verabschiedet haben. Ich zitiere aus der Zuschrift eines Lehrers einer Gesamtschule in Duisburg:

„Ich habe meine Schülerinnen und Schüler seit dem 18.12.2020 ganze fünf Tage vor den Osterferien in Präsenz gesehen. Bis sie wieder zum Präsenzunterricht kommen dürften, wird es sicherlich noch Wochen dauern, denn die Inzidenz in meiner Kommune liegt aktuelle bei 239. An einen völlig normalen Präsenzbericht ist in diesem Schuljahr sicherlich nicht mehr zu denken. Fazit: Von 20 Wochen Unterricht im zweiten Schuljahr erfolgten nicht nur für meine Schüler und Schülerinnen 16 in Distanz und vielleicht noch vier in Präsenz, also faktisch zwei, weil es sich um Wechselunterricht handelt. Hinzu kommen noch vier weitere Wochen vom 18.12. bis Ende des ersten Halbjahrs.“

So weit die Realität in den Schulen in Nordrhein-Westfalen. – Was ist insgesamt zum ersten Halbjahr zu sagen? Die jüngst an der Uni Bochum vorgestellte Studie „Das Bildungssystem in Zeiten der Krise“ kommt in Bezug auf das erste Halbjahr dieses Schuljahrs zu folgendem Ergebnis – ich zitiere –:

„Im angepassten Regelbetrieb mussten demnach überproportional häufig solche Schüler*innen in den Distanzunterricht zurückkehren, deren soziale, familiale, wohnliche und technische Voraussetzungen genau dafür besonders ungünstig sind.“

Was Sie Schülerinnen und Schülern abverlangen, soll jetzt rechtssicher sein? Hier von Gerechtigkeit und gerechten Bedingungen zu sprechen, ist blanker Hohn.

(Beifall von den GRÜNEN)

Die ZP 10 müssen in die Hand der Schulen gelegt werden; das ist jetzt noch drängender als im letzten Jahr. Da individuell mehr Lernzeit gebraucht wird, muss es möglich sein, Prüfungen auch Anfang des nächsten Schuljahres abzulegen.

Wir sollten nicht nur auf den Schulausgang, sondern auch auf den Schuleingang achten. Auch die Kitas sind von Schließungen und Kürzungen der Öffnungszeiten weitreichend und weitgehend betroffen. Schulärztliche Untersuchungen haben vielfach noch gar nicht stattgefunden.

Die Grundschulen wissen noch gar nicht, wie sich gegebenenfalls ein längerer Verbleib in der Schuleingangsphase darstellen wird. Substanzielle Unterstützung für die Grundschulen ist weiter nicht in Sicht.

Deshalb ist es sinnvoll und angezeigt, in dieser Situation einen Entscheidungskorridor für die Eltern zu öffnen, deren Kinder von Juli bis September geboren worden sind, vor der Einschulung stehen und entwicklungsbedingt noch Zeit brauchen.

Wir beraten unter diesem Tagesordnungspunkt auch unseren Antrag für ein wirksames und nachhaltiges Unterstützungsprogramm; das hat sich nämlich durch das Angebot „Extra-Zeit“ leider nicht erledigt. „Extra-Zeit“ fordert für die Gruppenangebote einen Trägeranteil von 20 %. Das ist ein unnötiges Hemmnis und bremst viele von den kleinen Jugendhilfeträgern bis hin zu Hochschulen aus, genauso wie die wieder überaus bürokratische Förderrichtlinie.

Die ausdrücklich zugelassene Form von zwei Tagen à drei Stunden in der Woche als Angebot wird sogar von Bezirksregierungen zurückgewiesen. So wird das wieder nichts, Frau Ministerin. Schon das erste Programm im Jahr 2020 ist gescheitert. Von 75 Millionen Euro wurden noch nicht einmal 5 Millionen Euro abgerufen.

(Ministerin Yvonne Gebauer: Ach, Frau Beer!)

Es bringt unseren Schüler*innen eben nichts, dass sich die Ministerin mit einem Programm schmückt, das auf der Strecke liegen bleibt; schließlich ist in diesem Schuljahr schon zu viel auf der Strecke liegen geblieben.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Infektionsrisiken wurden von Anfang an negiert und auch noch nach den Herbstferien beiseite gewischt. Frau Dr. Jana Schroeder hat gestern in der Sendung von Markus Lanz die Lage zutreffend beschrieben – ich zitiere –:

Die Elterngeneration der jetzigen Kinder liegt auf der Intensivstation. Alles was bisher über die Infektiosität von Kindern während der Pandemie gesagt wurde, ist reiner Wunschglaube. Das Kernproblem, welche Konsequenzen gezogen werden, wird nicht angepackt.

Das ist in ganz vielen Dingen deutlich geworden. Deswegen finde ich es wirklich empörend, dass Christoph Rasche heute Morgen hier gesagt hat: Es sind ja gar keine Vorschläge gemacht worden. – Jegliche Vorschläge gerade für den Schulbereich sind abgelehnt worden,

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD – Jochen Ott [SPD]: So ist es!)

und zwar seit einem Jahr und konsequent. Es ist nicht mal versucht worden, die Dinge anzugehen. Es ist nicht versucht worden, mit den Hochschulen über zusätzliche Lernbegleitung zu reden. Es ist nicht versucht worden, tatsächlich nach mehr Lernräumen zu suchen; das ist abgelehnt worden. Nirgendwo sind die Dinge wirklich angepackt worden.

Das Programm für Luftfilter ist auch nicht umfänglich abgerufen worden; 30 Millionen Euro sind stehen geblieben. Das Programm wird für dieses Jahr nicht wieder aktiviert; das ist die Realität. Sie haben Ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Deswegen stecken wir mit den Schulen auch zum Teil in der Situation, in der wir heute sind.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Zusammengefasst: Was Schulen wirklich sicherer macht, ist nicht gelungen; Sie haben es auch nicht umfänglich versucht.

Das Anlieferungschaos bei den Selbsttests in Schulen und die nicht schultauglichen Tests haben in vielen Schulen nur verzweifeltes Kopfschütteln ausgelöst. Was jetzt mit den Tests bei den Grundschulen passiert – Herr Kollege Ott hat es schon angesprochen –, schlägt dem Fass den Boden aus.

(Yvonne Gebauer, Ministerin für Schule und Bildung: Ach, Frau Beer, ich bin wirklich sprachlos!)

Das heißt, dass Schulleitungen bis 21 Uhr abwarten müssen, ob sie externe Benachrichtigungen über Infektionsfälle bekommen, die nachgeprüft werden müssen. Dann müssen sie die Eltern anrufen, aber morgens ab halb sieben wieder bereitstehen, damit die Logistik in den Schulen stimmt, und das Ganze ohne Unterstützung. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Frau Ministerin.

Die gesamte Organisation mit den kommunalen Spitzenverbänden steht auch noch nicht. Wieder einmal chaotisieren Sie die Landschaft, belasten die Schulen und haben kein Konzept, das wirklich dahintersteckt.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Insofern ist es wirklich schade, dass Sie beratungsresistent sind und weiterhin offensichtlich aus dem Tunnel heraus Ihre Politik machen. Das geht auf Kosten der Kinder und Jugendlichen, auf Kosten der Familien und der Lehrkräfte in diesem Land. – Danke schön.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)