Josefine Paul: „Eine umfängliche Aufhellung dieser Geschichte ist mehr als überfällig“

Zum gemeinsamen Antrag der Fraktionen von CDU, SPD, DP und GRÜNEN zum Schicksal von Verschickungskindern

Portrait Josefine Paul

Der gemeinsame Antrag

Josefine Paul (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Millionen Kinder wurden zwischen den 1950er- und den 1990er-Jahren auf sogenannte Kinderkuren geschickt. Doch die vermeintliche Erholung wurde für viele von ihnen zu einem Horror, der sie zum Teil bis heute verfolgt.

Die Geschichte und die Schicksale der Verschickungskinder wurden lange nicht beachtet. Was diesen Kindern widerfahren ist, ist fast unvorstellbar. Die Kolleginnen und Kollegen haben vorgetragen, wie uns das in der Anhörung geschildert worden ist und dass das niemanden von uns unberührt gelassen hat.

Man muss sich vergegenwärtigen, dass kleine Kinder zum Essen gezwungen wurden, gedemütigt wurden, erniedrigt wurden und mit Schlafentzug oder Toilettenverbot „bestraft“ – in Anführungszeichen – wurden. Kinder wurden von denjenigen missbraucht und gequält, die sie doch eigentlich hätten schützen sollen.

Viele Jungen und Mädchen mussten ein Gefühl der Ohnmacht erleben, weil ihnen niemand half und weil ihnen auch niemand glaubte. Viele öffentliche Institutionen und freie Träger oder Sozialleistungsträger waren an diesen Kinderkuren beteiligt. Aber hinschauen wollte offensichtlich niemand so genau. Auch später wurden ihre Berichte nicht gehört, und niemand wollte für das Leid, das ihnen angetan wurde, Verantwortung übernehmen.

Auch die Politik hat sich diesem dunklen Kapitel der bundesrepublikanischen Geschichte lange nicht annehmen wollen. Es ist dem großen Engagement der Betroffenen zu verdanken, dass die gesellschaftliche Auseinandersetzung und Aufarbeitung endlich mehr Aufmerksamkeit findet. Sie haben sich selbst organisiert, um aufzuarbeiten, aber auch, um zu bewältigen, was ihnen damals geschehen ist.

Die unermüdlichen Eigenrecherchen der Betroffenen machen eine Aufarbeitung heute überhaupt erst möglich. Dafür gebührt ihnen unser Dank und unsere ganz große Anerkennung.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)

Mittlerweile hat auch die Politik angefangen, sich dieser Aufarbeitung zu widmen. Die Jugend- und Familienministerkonferenz forderte den Bund im Mai 2020 auf, eine bundesweite Aufklärung der Vorkommnisse gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der ehemaligen Verschickungskinder und beteiligten Institutionen vorzunehmen. Das ist ein wichtiger Schritt.

Aber wir haben ja hier schon festgestellt, dass auch die Länder in der Verpflichtung sind, zu Aufklärung und Aufarbeitung beizutragen und sich der eigenen Verantwortung zu stellen. Ich kann mich dem, was die Kolleginnen und Kollegen gesagt haben, nur anschließen: Das sind wir den Betroffenen schuldig, und das ist das Mindeste, was wir tun können.

In NRW hat das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales mittlerweile eine Arbeitsgruppe eingerichtet. Hier sollen im Austausch mit Betroffenen auch weitere Maßnahmen koordiniert werden.

Aber auch wir als Parlament sind in der Verantwortung. Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen dafür danken, dass wir den heute vorliegenden Antrag gemeinsam auf den Weg bringen konnten. Wenn es auch nur ein kleines Zeichen ist, so ist es, glaube ich, ein wichtiges Zeichen, dass der Landtag Nordrhein-Westfalen das Leid der Betroffenen anerkennt.

Auch ich möchte mich noch einmal ausdrücklich beim Kollegen Dennis Maelzer bedanken – dafür, dass Sie hier die Initiative ergriffen haben, und dafür, dass Sie quasi den Stein ins Rollen gebracht haben, sodass wir heute diese gemeinsame parlamentarische Initiative beschließen können.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)

Daraus muss nun aber auch erwachsen, dass wir weitere Maßnahmen ergreifen – zum einen die Sicherstellung der Förderung der Betroffenenstrukturen, um ihre wichtige Beratungs- und Vernetzungsarbeit auch dauerhaft zu fördern und zu sichern.

Ein runder Tisch soll Betroffenenverbände und thematisch relevante Akteure zusammenbringen, vor allem aber auch gewährleisten, dass Landschaftsverbände, kommunale Spitzenverbände, Sozialleistungsträger, Wohlfahrtsverbände und Kirchen sowie die Wissenschaft – auch die Archive spielen hier eine große Rolle – an dem Prozess der Aufarbeitung mitwirken und an diesem runden Tisch eingebunden werden.

Ja, wir müssen konstatieren, dass staatliche Kontrolle und staatliche Institutionen beim Schutz der Verschickungskinder versagt haben.

Es muss nun darum gehen, Forschung zu fördern, Zugänge zu Aktenbeständen zu ermöglichen und Verantwortlichkeiten zu klären. Zu lange blieb das Thema der Verschickungskinder im Schatten des Nicht-hinsehen-Wollens. Eine umfängliche Aufhellung dieser Geschichte ist mehr als überfällig und muss nun entschieden unter Beteiligung aller Akteure vorangetrieben werden. Die Geschichte der Verschickungskinder und ihres Leids und auch des so lange Nicht-gehört- und Nicht-ernst-genommen-Werdens muss uns Verpflichtung sein, Kinderschutz und Kinderrechte jederzeit in unserer politischen Arbeit starkzumachen.

(Beifall von den Grünen, der SPD und der FDP)

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