Selbstbestimmung bei Intensivpflege achten – Reha- und Intensivpflege menschenrechtskonform gestalten

Antrag der GRÜNEN im Landtag

Mehrdad Mostofizadeh

I.        Ausgangslage
Die Bundesregierung plant ein neues Gesetz zur Reformierung der Reha- und Intensivpflege. Hierzu hat das Bundesministerium für Gesundheit am 14.08.2019 einen Referentenentwurf zu einem „Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetz“ (RISG) vorgelegt, mit dem sowohl Teile der Rehabilitationspflege neugeregelt als auch der Anspruch auf außerklinische Intensivpflege neugefasst werden sollen.
Der betroffene Personenkreis bei der Intensivpflege (nach § 37 SGB V) umfasst laut Bundesregierung auf Basis der Zahlen der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) etwa 22.500 Personen (2018). Davon wurden über 19.100 Menschen mit Intensivpflegebedarf im ambulanten Setting versorgt, 41 % davon sind Frauen. Im gleichen Zeitraum wurden 3.417 Patientinnen und Patienten in der stationären Intensivpflege versorgt.
Als eines der Ziele des geplanten Gesetzes wird von der Bundesregierung genannt, die Missbrauchsmöglichkeiten im Bereich der Intensivpflege zu beseitigen und Anreize für eine erfolgreiche Beatmungsentwöhnung zu schaffen. Der Entwurf des geplanten Gesetzes zielt nach Aussage des BMG darauf ab, „dem Missbrauch durch unseriöse Anbieter entgegenzuwirken, die sich bei Abrechnung und Erbringung von Pflegeleistungen aller- hand Betrugsmaschen zu Nutze machten.“ Ebenso ist geplant, die pflegerische Versorgung von Menschen mit Beatmung unter dem Vorwand der Qualitätssteigerung in stationären Einrichtungen erfolgen zu lassen. So soll aus der ambulanten 1:1 Versorgung für viele Menschen eine stationäre Unterbringung mit einem deutlich schlechteren Pflegeschlüssel erfolgen. Aus einer vermeintlich qualitativen Verbesserung, die in der stationären Heimpflege erfolgen soll, wird tatsächlich eine deutliche Verschlechterung für die Betroffenen. Unklar ist, ob auch aktiv an der Gesellschaft teilhabende Menschen mit Beatmung künftig ihr Zuhause gegen ihren Willen verlassen müssen, um stationär gepflegt zu werden – das stünde Artikel 11 des Grundgesetzes entgegen, der die freie Wahl des Wohn- und Aufenthaltsortes zusichert. Auch die Beantwortung der Frage nach geeignetem Pflegepersonal für künftig stationär zu versorgende Menschen mit Beatmung lässt der Gesetzentwurf offen.

Ziele und Inhalte im Bereich der Rehabilitation

Mit einem Bündel von Maßnahmen soll die Rehabilitation im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung gestärkt werden. Durch die Aufhebung des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität können Vergütungsverträge bei erforderlichen Mehrausgaben der Einrichtungen, die etwa durch Tariferhöhungen bei den Gehältern der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entstehen, angepasst werden. Es soll geregelt werden, dass die Bezahlung tarifvertraglich vereinbarter Vergütungen sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen zukünftig nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden kann.
Das Wahlrecht der Versicherten bei der Auswahl der Rehabilitationseinrichtung soll gestärkt werden: Vorgesehen ist zudem, dass die Versicherten die Mehrkosten nicht mehr vollständig alleine tragen, sondern nur zur Hälfte, wenn sie sich für eine von der Krankenkasse nicht bestimmte Einrichtung entscheiden.
Die Hervorhebung der geriatrischen Rehabilitation kann dazu führen, dass zu wenig zielgerichtete, personenspezifische Angebote unterbreitet werden, wenn beispielsweise auch junge pflegebedürftige Patientinnen und Patienten einer geriatrischen Rehabilitation zugewiesen werden, obwohl eine andere Indikation sinnvoll wäre.

Gesetzentwurf will in der Intensivpflege Vorrang für die stationäre Unterbringung

Für den Bereich der Intensivpflege sieht der Entwurf vor, dass Versicherte mit außerklinischem, intensivpflegerischen Versorgungsbedarf zukünftig die Leistungen der medizinischen Behandlungspflege entsprechend einer neu geschaffenen Grundlage (§ 37c SGB V) erhalten sollen. Leistungen der häuslichen Krankenpflege (§ 37 SGB V) sollen in diesen Fällen dann nicht mehr erbracht werden. Der anspruchsberechtigte Personenkreis soll derjenige sein, der nach bisherigem Recht aufgrund eines besonders hohen Bedarfs an medizinischer Behandlungspflege auch bei Unterbringung in stationären Pflegeeinrichtungen ausnahmsweise Anspruch auf häusliche Krankenpflege (§ 37 Absatz 2 Satz 3 bzw. Satz 8 SGB V) hatte.
Die Leistungen der außerklinischen Intensivpflege sollen dann regelhaft nur noch in Pflegeeinrichtungen (§ 43 SGB XI) oder in speziellen Intensivpflege-Wohneinheiten erbracht werden. Bei der Inanspruchnahme von Leistungen der außerklinischen Intensivpflege in diesen vollstationären Pflegeeinrichtungen sollen die Eigenanteile dann erheblich reduziert werden. In Ausnahmefällen, wenn die Unterbringung in einer solchen Einrichtung nicht möglich oder nicht zumutbar ist, soll die außerklinische Intensivpflege auch im Haushalt des Versicherten oder sonst an einem geeigneten Ort erbracht werden können.
Leistungen der außerklinischen Intensivpflege sollen dann künftig nur von Leistungserbringern erbracht werden dürfen, die besondere Anforderungen erfüllen. Hierzu sollen beispielsweise der Abschluss von Kooperationsvereinbarungen mit ärztlichen und weiteren nichtärztlichen Leistungserbringern und die Durchführung eines internen Qualitätsmanagements gehören. Allerdings wird der Pflegeschlüssel deutlich verschlechtert. Eine 1:1 Betreuung wie bislang bei der ambulanten Versorgung, mit der für viele Menschen auch eine Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben möglich ist, wird es dann in der Regel nicht mehr geben können. Schließlich soll die Beatmungsentwöhnung im Übergang zwischen akutstationärer und ambulanter Behandlung gestärkt werden.

Das RISG signalisiert: Menschen mit Beatmung sollen künftig ihr Zuhause gegen ihren Willen verlassen, um stationär gepflegt zu werden.

Stark zu kritisieren am geplanten Gesetz ist, dass die Leistungen der außerklinischen Intensivpflege in Zukunft hauptsächlich in vollstationären Pflegeeinrichtungen oder speziellen Intensivpflege-Wohneinheiten zu erbringen sind. Die Intensivpflege mit Beatmung zuhause soll nur noch die absolute Ausnahme sein. Ausgenommen von der Neuregelung sollen betroffene Kinder und intensivpflegebedürftige Menschen sein, die bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits außerklinische Intensivpflege in ihrem Haushalt oder in der Familie in Anspruch nehmen. Menschen, die zukünftig auf Intensivpflege angewiesen sind, müssen nachweisen, dass für sie die Unterbringung in einer vollstationären Pflegeeinrichtung oder einer Wohneinheit nicht zumutbar ist. Das widerspricht dem Grundsatz der Gleichbehandlung, dem Leitsatz „ambulant vor stationär“ und verhindert die Integration dieser Menschen in den Alltag und ihr familiäres Umfeld. Denn die Versorgung im eigenen Zuhause ermöglicht vielen Betroffenen ein relativ autonomes Leben. Es ist deshalb weder nachvollziehbar noch hinnehmbar, wenn das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) die Wirtschaftlichkeit der Versorgung über die Bedürfnisse der Menschen stellt.
Das BMG geht davon aus, dass 60 Prozent der Patienteninnen und Patienten in der Beatmungspflege entwöhnt werden könnten. Ob diese Personen tatsächlich entwöhnt werden können, entscheiden weder die Pflegedienste und -einrichtungen, noch der Gesetzgeber, sondern allein die behandelnden Ärzte und Ärztinnen. Beatmungsentwöhnung (Weaning) kann nicht ohne eine ärztliche Verordnung durchgeführt werden. Bei vielen Patientinnen und Patienten lässt das Krankheitsbild eine Entwöhnung nicht zu, beziehungsweise eine Entwöhnung würde dazu führen, dass eine aktive Teilhabe an der Gesellschaft nicht mehr möglich ist.

Der Referentenentwurf hat starke Proteste hervorgerufen

Insbesondere der Regelungsbereich der außerklinischen Intensivpflege hat viele betroffene Menschen nachhaltig verunsichert, viele fühlen sich in ihrer Lebensweise und Selbstbestimmung bedroht, was zu einem breiten Protest geführt hat. Dieser zeigt sich u.a. in Demonstrationen, zahlreichen sehr kritischen Stellungnahmen und einer Petition, die mittlerweile über
135.000 Einzelpersonen unterzeichnet haben. Der Protest richtet sich vor allem gegen die Einschränkung der persönlichen Selbstbestimmungsrechte betroffener Menschen, da der Anspruch auf außerklinische Intensivpflege in der eigenen Häuslichkeit nur noch für Menschen im Alter von unter 18 Jahren oder in Ausnahmefällen bestehen soll, in denen eine Unterbringung in stationären Pflegeeinrichtungen „nicht zumutbar“ erscheint.
Der vorliegende Referentenentwurf verstößt somit in mehreren Punkten gegen geltendes Recht und Rechtsprechung. So hat das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 10.11.2011 (B 3 KR 38/04 R) nochmals den gesetzlichen Anspruch auf häusliche Kranken- pflege unterstrichen. Zugleich verstößt das geplante Gesetzt auch gegen mehrere Artikel der UN-Behindertenrechtskonvention, insbesondere Artikel 19 – Selbstbestimmte Lebens- führung und Einbeziehung in die Gemeinschaft: „[…] Menschen mit Behinderungen [sollen] gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihr en Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben[…].“
Darüber hinaus verpflichtet Artikel 26 die Unterzeichnerstaaten, “Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren. […]“
Im Bericht des Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) zur „ambulanten Intensivpflege in NRW vor dem Hintergrund des Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetzes“ (Vorlage 17/2492) vom 02.09.2019 wird darauf abgehoben, dass das zuständige Bundesgesundheitsministerium BMG gegenüber den Ländern eine „Nachschärfung der betref-fenden Regelungen“ zugesagt hat. Demnach sollen Personen, die bereits heute trotz Beatmung oder Tracheotomie (Luftröhrenschnitt) ein selbstbestimmtes Leben in der eigenen Häuslichkeit führen, in ihrer Lebensführung nicht eingeschränkt werden. Diese Nachbesserung wäre allerdings unzureichend, da dies für alle Menschen, die auch zukünftig in der ambulanten und assistiven Intensiv- und Beatmungspflege versorgt werden wollen, keine Lösung darstellen würde.
In der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der GRÜNEN im Bundestag vom 22.10.2019 lässt das BMG offen, entlang welcher Kriterien eine Zumutbarkeit geprüft werden sollte und welche Institution diese Prüfung vornehmen könnte. Der Bundesgesundheitsminister hat dabei in Fernsehauftritten betont, dass vor allem Menschen stationär untergebracht würden, die sich nicht mehr artikulieren könnten. Diese Einschränkung erscheint vor dem Hintergrund beachtlich, dass neuromuskuläre Erkrankungen, die nicht altersgebunden sind, mitunter eine Situation verursachen können, in denen die betroffenen Personen nicht mehr fähig sind, ihren Willen zu äußern. Von Einhaltung der Selbstbestimmung und den Vorgaben der UN-BRK kann dann hier keine Rede mehr sein.
Zugleich sieht die intensivpflegerische Versorgung in stationären Einrichtungen für den Personenkreis derer, die mit Unterstützung in der Lage sind, am alltäglichen Leben teilzunehmen, keinerlei Teilhabeunterstützung vor.

Wohn- und Pflegeinfrastruktur für Menschen mit Bedarf an umfassender und intensiver Pflege im ambulanten Bereich bedarfsgerecht ausbauen.

In Nordrhein-Westfalen wie auch in anderen Bundesländern gibt es immer noch eine Angebotslücke im Bereich ambulant begleiteter Wohnformen. Viele Verbände und Träger weisen in ihren Stellungnahmen auf diesen Missstand hin. Eine menschenzentrierte Pflegeinfrastruktur verlangt nach kleinteiligen, ambulanten Angeboten und deren Einbeziehung in die Pflegeinfrastruktur vor Ort, unter Einbeziehung des sozialen Umfeldes der Menschen. Dies gilt besonders für Menschen mit einem Bedarf an umfassender und intensiver Pflege.
Das gesetzlich eingeräumte freie Wahlrecht des Versicherten, was Inhalt, Umfang und Struktur von Pflege- und Betreuungssettings anbelangt, besitzt verfassungsrechtlichen Rang: Jeder muss das pflegerische Angebot wählen können, das ihm zusagt. Um das Ziel erreichen zu können, dass jede Person entscheiden können muss, wo sie leben will, ist die Schaffung von faktischen Wahlmöglichkeiten nötig. Davon sind wir in NRW aber noch weit entfernt. So steht an Versorgungsangeboten für eine umfassende Pflege in NRW derzeit ein Angebot an 6.000 Plätzen in Pflege-Wohngemeinschaften einem Angebot an 170.000 Plätzen in Pflegeheimen gegenüber. Wahlfreiheit sieht anders aus.
Deshalb muss ein Schwerpunkt im Ausbau der Pflegeinfrastruktur in der Förderung und Unterstützung von gemeinschaftlichen Wohnformen mit einer umfassenden Pflege im ambulanten Setting liegen, so wie es auch vom 7. Altenbericht der Bundesregierung eingefordert wird.

III.        Der Landtag stellt fest:

·           Mit dem Entwurf für ein Reha- und Intensivpflegegesetz wird das Ziel, den Missbrauch in der Intensivpflege zu bekämpfen, verfehlt. Stattdessen werden zentrale Menschenrechte ausgehebelt.
·           Ein selbstbestimmtes Leben in der eigenen Häuslichkeit muss auch für Menschen mit einem Bedarf an Intensivpflege präferiert und ermöglicht werden. Der neue Leistungsanspruch, den das RISG eröffnet, muss ausschließlich zu einem Mehr an Teilhabe führen, und keinesfalls die Teilhabe einschränken.
·           Die wohnortnahe Versorgung intensivbehandlungspflegebedürftiger Menschen muss Vorrang haben, dies schließt alle Wohnformen mit ein.

IV.       Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

1.      sich gegenüber der Bundesregierung dafür einzusetzen, dass diese den Entwurf für ein Reha- und Intensivpflegegesetz diesbezüglich grundlegend verändert und die Selbstbestimmung der Menschen über Wohn- und Pflegeort gesichert wird:
2.     sich für die Einhaltung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“ auch in der außerklinischen Intensivpflege und für den Erhaltung des Zugangs zur ambulanten Intensivpflege ohne Altersbeschränkung im Rahmen der weiteren Beratungen um das Rehabilitations- und Intensivpflegegesetz einzusetzen;
3.     sich dafür einzusetzen, dass der Teilhabeaspekt und die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention insbesondere die Artikel 19 und 26 in der intensivpflegerischen Versorgung mit verankert werden;
4.      sich gegenüber dem BMG dafür einzusetzen, dass der Entwurf des Gesetzes RISG u.a. dahingehend verändert wird, dass eine Verlegung aus der häuslichen in eine stationäre Versorgung gegen den Willen der Betroffenen nicht möglich ist und dies auch für Personen gilt, die zukünftig ein selbstbestimmtes Leben in der eigenen Häuslichkeit leben wollen. Es muss für alle Betroffenen erkennbar sein, dass der neue Leistungsanspruch ausschließlich zu einem Mehr an Teilhabe führt, und keinesfalls die Teilhabe einschränkt;
5.      sich dafür einzusetzen, dass der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) und Prüfdienst der Privaten Krankenversicherung (PKV) MEDICPROOF künftig ein verbindliches Prüf- und Begehungsrecht für ambulante Intensivpflegewohnformen erhalten;
6.     sich dafür einzusetzen, dass die Anforderungen, die an die Konzepte von Intensivpflegewohnformen gestellt werden, gestärkt werden und die Erhaltung und Wiedergewinnung der selbstbestimmten Teilhabefähigkeit bis hin zur Selbstständigkeit intensivbehandlungspflegebedürftiger Menschen gefördert wird;
7.     sich für die wohnortnahe Versorgung intensivbehandlungspflegebedürftiger Menschen einzusetzen. Dies schließt alle Wohnformen mit ein;
8.     die Wohn- und Pflegeinfrastruktur für Menschen mit Bedarf an umfassender und intensiver Pflege im ambulanten Bereich bedarfsgerecht auszubauen.