I. Ausgangslage
Die Geschlechter unterscheiden sich in Gesundheit und Krankheit. Mittlerweile ist erwiesen, dass biologische und vor allem soziale Faktoren zu vielen Unterschieden in der Gesundheit und sogar in der Gesundheitsversorgung von vor allem Frauen und Männern1 führen. Gleichzeitig gibt es auch innerhalb der Geschlechtergruppen eine große Vielfalt.
Anatomie, Genetik und Geschlechtshormone haben einen Einfluss darauf, welche Krankheiten vor allem Frauen oder Männer stärker treffen und wie die Geschlechter von verschiedenen Krankheiten betroffen sind. Zum Beispiel leiden Männer aufgrund ihrer Chromosomenkonstellation häufiger an bestimmten Erbkrankheiten. Frauen wiederum haben bis zu den Wechseljahren ein aktiveres Immunsystem und dadurch ein geringeres Risiko für Infektionskrankheiten. Frauen haben durchschnittlich eine höhere Lebenserwartung als Männer. Sie ernähren sich gesünder, rauchen weniger und konsumieren weniger Alkohol. Außerdem nehmen sie häufiger an Präventionsmaßnahmen teil (RKI: Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland, 2023). Auf der anderen Seite sind Frauen in medizinischen Studien unterrepräsentiert. Dadurch ist das Wissen um geschlechtsspezifische Symptome und die entsprechende Diagnostik sowie Therapie bei vielen Krankheiten (z. B. Herzinfarkt, Rheuma) geringer. Zudem sind Krankheiten, die überwiegend bei Frauen vorkommen, häufig weniger erforscht (der sogenannte „Gender data gap“ oder auch „Gender health gap“). Das betrifft zum Beispiel Endometriose – eine der häufigsten gynäkologischen Erkrankungen (siehe hierzu den interfraktionellen Antrag 18/6842). Und schließlich ist Gewalt ein großes Gesundheitsrisiko für Frauen (und Kinder) – insbesondere für Frauen und Mädchen mit Behinderungen (siehe auch Teilhabebericht NRW 2020).
Dass Männer in der Medizin die Norm sind, hat allerdings nicht nur für Frauen Nachteile. Erkranken Männer an sogenannten Frauenkrankheiten wie Osteoporose oder Brustkrebs, bekommen sie die Diagnose erst sehr spät. Auch bei der Dosierung von Medikamenten oder der Größe von Hüftgelenken haben Männer, die deutlich von der Norm abweichen, das Nachsehen.
Frauen und Mädchen sind häufig von Mehrfachdiskriminierung betroffen, insbesondere solche mit internationaler Geschichte (z. B. Geflüchtete), Behinderungen, niedrigem sozialen Status sowie queere Frauen. So fehlt beispielsweise für Frauen mit Behinderungen ein ausreichendes Angebot an gynäkologischer Versorgung. Dafür ist als ein erster Schritt die systematische und flächendeckende Erfassung an barrierefreien gynäkologischen Angeboten wichtig. Gemeinsam mit den Akteuren des Gesundheitswesens werden wir prüfen, wie wir ein digitales Portal aufbauen können, in dem Mädchen und Frauen mit Behinderungen einfach und schnell digital eine barrierefreie Praxis finden können. Denn nicht nur für Frauen und Mädchen mit Behinderungen ist eine Barrierefreiheit von großer Bedeutung: Davon profitieren auch ältere Frauen und Mädchen und Frauen, die geringe Deutschkenntnisse haben. Ein Gesundheitswesen, dass geschlechtssensibel ist, Diversität ermöglicht und Inklusion fördert, kann dazu beitragen, dass die Chancengerechtigkeit auch im Bereich Gesundheit wächst.
Ein Bereich, der Frauen in besonderer Weise betrifft, ist die reproduktive Gesundheit. Körperliche und sexuelle Selbstbestimmung sind zentrale Voraussetzungen für eine selbstbestimmte Familien- und Lebensplanung und für den Umgang mit der eigenen Gesundheit. Eine gute Versorgung rund um Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und die erste Lebensphase des Säuglings bzw. Kleinkindes sind wichtige Bestandteile einer guten Gesundheitsversorgung. Ungewollt Schwangere brauchen schnelle Informationen und Beratung – sowohl zu den Möglichkeiten der Unterstützung, falls ein Kind geboren wird, als auch zu medikamentösen und operativen Abbrüchen. Ein ausreichendes und gut erreichbares Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen im Rahmen des bundesgesetzlichen Auftrags soll zur Verfügung stehen.
Zwei Drittel der Studienanfängerinnen und Studienanfänger der (oder im Fach) Medizin sind weiblich. Gleichzeitig sind Frauen in Forschung und Führungspositionen sowie den Gremien der Selbstverwaltung unterrepräsentiert. Nur rund jede dritte Oberarzt- und jede zehnte Chefarztposition ist in Deutschland mit einer Frau besetzt2. Die Beteiligung von Frauen als Fachkräfte im Gesundheitswesen, als Wissenschaftlerinnen und Patientinnen an Entscheidungsprozessen ist ein wichtiger Schritt, um die Gesundheitsforschung und -versorgung zu verbessern.
Gerade in den Zukunftsbereichen von Künstlicher Intelligenz (KI), Telemedizin und anderen Formen der Digitalisierung ist eine geschlechter- und diversitätssensible Herangehensweise von großer Bedeutung. So besteht die Gefahr, dass KI durch das Training mit einseitigen oder verzerrten Daten Diskriminierung „lernt“ und in der Folge bei Anwendung der KI die Benachteiligung von Frauen und anderen benachteiligten Personengruppen verstärkt wird. Dem muss entgegengewirkt werden. Denn auf der anderen Seite hat gerade KI das Potenzial, gesundheitliche Prävention und Gesundheitsförderung, aber auch die Gesundheitsversorgung, signifikant zu verbessern. Davon müssen alle Geschlechter profitieren können. Eine Strategie des Landes zu Künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen (vergleiche Drucksache 18/12032) wird dies berücksichtigen müssen.
II. Beschlussfassung
Der Landtag stellt fest, dass
- eine geschlechtergerechte Perspektive im Gesundheitswesen noch nicht vollständig umgesetzt ist;
- ein geschlechtergerechtes Gesundheitswesen von entscheidender Bedeutung ist, um die Gesundheitsversorgung für alle Mädchen und Frauen – unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status, ihrer Herkunft, sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität oder ihrer Behinderung – gerechter und inklusiver zu gestalten;
- ein geschlechtergerechtes Gesundheitswesen zur besseren Versorgung aller Geschlechter beiträgt;
- körperliche und sexuelle Selbstbestimmung zentrale Voraussetzungen für eine gute Gesundheit und eine selbstbestimmte Familien- und Lebensplanung sind;
- bei der Digitalisierung und im Zusammenhang mit KI eine geschlechtergerechte Perspektive sehr wichtig ist, um Chancen zu realisieren und zusätzliche Diskriminierungen zu verhindern;
- zu einer geschlechtergerechten Perspektive im Gesundheitswesen auch die Vereinbarkeit von Familie/Pflege und Beruf gehört;
- Frauen nicht ausreichend in den Führungsstrukturen und Gremien des Gesundheitswesens und der Wissenschaft repräsentiert sind;
- Gewalt bei Betroffenen – egal welchen Geschlechts – zu massiven Gesundheitsfolgen bis zum Tod führen kann. Die Anstrengungen im Bereich des Gewaltschutzes insbesondere von vulnerablen Gruppen müssen kontinuierlich fortgeführt werden.
Der Landtag beauftragt die Landesregierung, im Rahmen vorhandener Mittel,
- das Thema „Geschlechtersensible Gesundheitsversorgung“ in einer Landesgesundheitskonferenz mit allen beteiligten Akteurinnen und Akteuren zu bearbeiten;
- Mädchen und Jungen in ihrer Gesundheitskompetenz zu stärken, z. B. im Rahmen von Präventionsangeboten des Öffentlichen Gesundheitsdienstes an Schulen;
- bestehende Förderprogramme im Gesundheitswesen und der Gesundheitsforschung daraufhin zu überprüfen, ob die Geschlechterperspektive ausreichend berücksichtigt wird. Daten sollen entsprechend erfasst und ausgewertet und dies zur Voraussetzung bei zukünftigen Förderprogrammen des Landes gemacht werden;
- gemeinsam mit den Akteurinnen und Akteuren im Gesundheitswesen wie den Kassenärztlichen Vereinigungen darauf hinzuwirken, die Beratungs- und Versorgungslücke von Mädchen und Frauen mit Behinderungen – gerade im gynäkologischen Bereich – zu schließen und bestehende Informationsangebote über barrierefreie Versorgungsangebote unter Hinzuziehung der Expertise von Betroffenen zu verbessern und barrierefrei bereitzustellen;
- im Rahmen des Verfahrens zur Krankenhausplanung dafür Sorge zu tragen, dass Geburtsstationen gut erreichbar sind, und barrierefrei und entsprechend den geburtshilflichen Qualitätsvorgaben zur Verfügung stehen;
- Hebammen-Kreißsäle zu verstetigen;
- im Austausch mit den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Krankenhäusern in NRW dafür zu sensibilisieren, dass ein ausreichendes und gut erreichbares Angebot zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen vorgehalten wird;
- gemeinsam mit den medizinischen Fakultäten, Kammern, Verbänden und Unternehmerinnen und Unternehmern der Gesundheitswirtschaft zu beraten,
- wie gute Rahmenbedingungen geschaffen werden können, um Familie/Pflege und Beruf im Gesundheitswesen besser zu vereinbaren und
- Maßnahmen zu erarbeiten und umzusetzen, wie mehr Frauen in Führungspositionen und die Führungsstrukturen der Gremien gebracht werden können, unter anderem im Rahmen von gezielten Nachwuchs- und Mentoring-Programmen, aber auch durch strukturelle Weiterentwicklungen.
1 Es ist anzunehmen, dass diese Unterschiede nicht nur Frauen und Männer, sondern die verschiedenen Geschlechter betreffen. In Bezug auf weitere Geschlechter und Gesundheit ist die Datenlage allerdings nicht sehr umfassend. Die Zukunftskoalition hat daher, mit Unterstützung der SPD, in einem Antrag beschlossen, die Datenbasis zur Gesundheit und sozialen Situation von LSBTIQ*-Menschen in Nordrhein-Westfalen zu erfassen und auf dieser Grundlage den Aktionsplan für Vielfalt und gegen Homo- und Transfeindlichkeit weiterzuentwickeln (Drucksache 18/6360).