Aus der Pandemie lernen: Chancen der Digitalisierung für die Inklusion nutzen

Antrag der GRÜNEN im Landtag

I. Ausgangslage

Die Corona-Pandemie hat die Defizite in der schulischen Digitalisierung und der gleichberech­tigten Teilhabe aller Schülerinnen und Schüler am Unterricht offen gelegt. Vor allem bei den zuvor schon benachteiligten Gruppen haben sich die Bildungsungerechtigkeiten verschärft. Die Erfahrungen in der Pandemie bieten aber auch eine Chance, denn sie haben eine veränderte Sicht und einen neuen Umgang mit digitalen Formaten ermöglicht. An dieser Stelle gilt es anzu­setzen und diese Möglichkeiten im Sinne der betroffenen Kinder und ihrer Familien zu nutzen. Der Blick auf Kinder, die im digitalgestützten Unterricht nicht optimal erreicht werden konnten, ist richtig und wichtig. Die Krisensituation hat aber gerade auch für Kinder und Jugendliche in besonderen Lebenssituationen plötzlich neue Chancen gebracht, die auf flexible Unterrichtsan­gebote im Distanzlernen angewiesen sind und die bislang von den Schulen nicht systematisch angeboten wurden. Das bedeutet Chancen für Kinder und Jugendliche, die temporär nicht am Regelunterricht teilnehmen können, sei es aus Krankheitsgründen, weil sie in Quarantäne sind oder bestimmte Handicaps haben. Zukünftig werden digitale Formate und Unterrichtseinheiten eine noch stärkere Bedeutung erhalten und müssen weiterentwickelt werden.

Eine struktureller Baustein für die Beschulung von Kindern und Jugendlichen, die krankheits­bedingt am Regelunterricht nicht teilnehmen können, ist die so genannte Schule für Kranke.1 Über Hausunterricht oder Unterrichtsmöglichkeiten in stationären medizinisch-therapeuti­schen Einrichtungen können Schülerinnen und Schüler einzeln oder in kleinen Gruppen un­terrichtet werden. Das gibt den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, während einer Krankheitsphase möglichst wenig zu verpassen und gleichzeitig soziale Interaktionen aufrecht zu erhalten. Damit erhalten sie eine Perspektive, um auch bei längerer Abwesenheit von der Schule eine Rückkehr möglichst ohne Brüche vollziehen zu können.

Wichtig ist dabei, dass die Kinder und ihre Erkrankung bzw. Beeinträchtigung akzeptiert und ernst genommen werden. Dabei ist eine enge Kooperation zwischen der Schule für Kranke und der Stammschule der betroffenen Kinder und Jugendlichen notwendig. Bislang ist der Zugang zur Schule für Kranke bürokratisch reglementiert und an den stationären Aufenthalt in einer medizinischen Einrichtung gebunden. Möglichkeiten der prä- und poststationären Beschulung unterliegen engen Vorgaben. Kinder und Jugendliche verbleiben unter Umständen längere Zeit ohne Beschulung. Gerade für Schülerinnen und Schüler mit einer psychischen Beeinträchtigung und ihre Familien führt das zu großen Problemen.

Neben der Schule für Kranke2 gibt es verschiedene private Schulangebote, die Online-Unter­richt mit Präsenzunterricht verbinden, so genannte Webschools.3 Allerdings sind diese Schu­len nicht einfach zugänglich und sie sind keine zugelassen Ersatzschulen. Die Schulen wollen bestmögliche Lernbedingungen schaffen, damit Kinder und Jugendliche in ihrem eigenen Lerntempo arbeiten können. Ein hohes Maß an Individualität und Flexibilität bei der Unter­richtsgestaltung sind für erkrankte Kinder und die Fortschritte, die sie erzielen können, beson­ders relevant. In den Privatschulen wird ihnen diese Möglichkeit gegeben. Allerdings wird die­sen Bildungsformaten privater Träger der Ersatzschulstatus nicht zuerkannt und die Schul­pflicht kann nicht durch den Besuch einer solchen Webschool erfüllt werden. Deshalb stellen sich für Eltern hohe Hürden, um eine Befreiung von der Schulpflicht zu erwirken und anerken­nungsfähige Gutachten, Atteste und Belege beizubringen. Nicht immer werden die anfallenden Kosten für die Privatschulen von den Jugendämtern übernommen. Doch nur die wenigsten Familien können sich Kosten in Höhe von teilweise 1.200 Euro monatlich4 leisten. So bleibt vielen Kindern der Zugang zu einem bedarfsgerechten Bildungsangebot verwehrt, das in der Lage ist, sehr individuelle Lernausgangslagen zu berücksichtigen.

Neben der Frage von webbasierten Schulen gibt es bereits digitalgestützte Hilfsmittel, um Kin­der und Jugendliche trotz vulnerabler gesundheitlicher Situation eine Teilhabe im Klassenver­band zu ermöglichen. Telepräsenz-Roboter sind beispielsweise in Schleswig-Holstein bereits umfangreich und erfolgreich im Einsatz. In Nordrhein-Westfalen haben diese Avatare noch keine grundsätzliche Genehmigung erhalten und sind auf Einzelinitiative hin nur stellenweise im Einsatz.5 Die Avatare bieten schwer erkrankten Kindern und Jugendlichen eine sehr gute persönliche Kommunikationshilfe, über die sie dem Unterricht mittels einer gesicherten Vide­overbindung folgen können. Ein Avatar fungiert als Augen, Ohren und Stimme eines Kindes und vertritt Schülerinnen und Schüler überall dort, wo sie physisch nicht sein können, da sie sich im Krankenhaus oder zu Hause befinden. Über diese Kommunikationsroboter ist eine aktive Teilnahme der Kinder am Unterricht im Klassenraum möglich. Der Kontakt zur Schule und zur Klassengemeinschaft kann aufrecht erhalten werden – ein wichtiger Punkt zur Unter­stützung der Genesung. Kinder mit physischen oder psychischen Langzeiterkrankungen er­halten damit ein Stück Normalität zurück. Unabhängig von der sozialen Komponente schützen diese Avatare durch umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen die Privatsphäre, gewährleisten den Datenschutz und verursachen keinen großen technischen Aufwand. Solche Angebote sollten ausgebaut werden und flächendeckend zugänglich sein, um Inklusion für alle Schüle­rinnen und Schüler zu ermöglichen. Hierbei ist eine zügige rechtliche Regelung durch die Lan­desregierung wichtig. Denn gerade in einem sensiblen Bereich wie dem der Schulen, in dem es um den Schutz der Rechte von Kindern und Jugendlichen geht, ist eine klare Definition der Zuständigkeit und Verantwortlichkeit von besonderer Bedeutung. Die Schulen bzw. Schulleitungen müssen von ihrer datenschutzrechtlichen Verantwortung entbunden werden, da sie den an sie gestellten Anforderungen oft nicht gerecht werden können. Eine Regelung, nach der die datenschutzrechtliche Verantwortung auf Dritte übertragen werden kann, existiert derzeit – im Gegensatz zu z. B. Schleswig-Holstein – in Nordrhein-Westfalen nicht. Hier be­steht dringender Handlungsbedarf.

II. Etablierung einer staatlichen Online-Schule

Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wo die Schwächen im Schulsystem liegen – aber auch, welche Chancen entstehen können, wenn man die gewonnenen Erkenntnisse aus der pandemiebedingten Sondersituation gerade für die Kinder und Jugendlichen in besonderen Situati­onen nutzt. Die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung können für eine gelungene Inklusion stehen. Kindern und Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen, die nicht beschult werden können, muss das Angebot einer staatlichen Online-Schule gemacht werden können. Ein sol­ches Webschool-Angebot sollte die bereits bestehenden Möglichkeiten von Fernunterricht auf­greifen und um neue Aspekte erweitern. Dabei ist eine Kopplung an einen staatlich vorgege­benen Rahmen wichtig, um die Kostenbarriere für die Eltern aufzulösen und den Schülerinnen und Schülern den Zugang zu Schulabschlüssen zu gewährleisten.

Eine staatliche Online-Schule schließt eine bestehende Lücke im System, indem sie als Indi­vidualschule eine gleichberechtigte Teilhabe am Unterricht in vielen Fällen erst ermöglicht oder erleichtert. Die Nutzung von neuen Ansätzen im Bereich digitalgestützter Bildung zur schuli­schen Inklusion verknüpft nicht nur zwei wesentliche Aspekte der Digitalisierung, sondern ent­wickelt sie konzeptionell weiter. Die staatliche Online-Schule kann mit den Angeboten der Schule für Kranke vernetzt und an der Schule für Kranke etabliert werden. Schülerinnen und Schüler mit besonderen Beeinträchtigungen können, unabhängig vom Geldbeutel der Eltern, ihre Schulpflicht erfüllen und Abschlüsse erreichen.

Die Schule für Kranke kann und sollte zu Individualschule weiterentwickelt werden, die auch grundsätzlich webbasiert arbeitet, neben ihren klassischen Präsenz-Unterrichtsstandorten. Als Teil eines inklusiven Schulsystems sollte sie für alle Kinder und Jugendlichen, die aus individu­ellen Gründen nicht am Unterricht der Regelschule teilnehmen können, ein Angebot machen – mit Online-Formaten und, wo möglich, auch mit Präsenzanteilen. Diese Web-Individualschule sollte auch den im Schulgesetz vorgesehenen Hausunterricht umfassen und eben auch für Zeit­räume von unter sechs Wochen (Hausunterricht) oder vier Wochen (Schule für Kranke) gelten. Damit können auch die Regelschulen entlastet werden, die bislang z. B. für Schülerinnen und Schüler temporäre Angebote machen müssen. Eine soziale Einbindung von beeinträchtigten Kindern kann zudem zeitweise über Avatare erfolgen. Eine sozialarbeiterische oder familienun­terstützende Begleitung kann im Jugendhilfenetzwerk angebunden werden.

III: Feststellungen
Der Landtag stellt fest:

  1. In NRW fehlt ein staatliches Webschool-Angebot. Privatschulangebote sind für viele Familien nicht finanzierbar und haben hohe bürokratische Hürden. Damit sind die Chancen für die Eingliederung beeinträchtigter Kinder nicht optimal entwickelt. Die staatliche Schule für Kranke bietet eine Grundstruktur, die mit einem Online-Angebot ergänzt werden sollte.
  2. Eine staatliche Online-Schule schafft ein inklusives Angebot unabhängig vom Geldbeutel der Eltern.
  3. Auf die individuellen Bedürfnisse schwer erkrankter Schülerinnen und Schüler wird mit dem bestehenden Schulsystem nicht ausreichend eingegangen. Chancen der Digitalisierung werden bislang zu wenig im Sinne der Kinder genutzt. Die vorhandenen technischen Möglichkeiten könnten ausgebaut und individuell an die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler angepasst werden.

IV. Forderungen an die Landesregierung

Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

  1. eine staatliche Online-Schule einzurichten und an der Schule für Kranke zu etablieren, um die Situation von langfristig erkrankten bzw. beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen zu verbessern;
  2. die inklusive Online-Schule im Schulsystem zu etablieren und damit neue Teilhabemöglichkeiten und Wege zu Bildungsabschlüssen zu eröffnen;
  3. rechtliche Vorgaben für den Einsatz von Telepräsenzrobotern zu schaffen und den unbürokratischen und schnellen Einsatz in den Schulen von Nordrhein-Westfalen zu gewährleisten.

 

1 Vgl. die Informationen des Ministeriums für Schule und Bildung zur Schule für Kranke unter: https://www.schulministerium .nrw/schule-fuer-kranke. Der Verband Sonderpädagogik e. V. listet auf seiner Webseite die Schulen für Kranke verteilt nach Bundesländern auf: https://pbkr.info/schulen-fuer-kranke-in-deutschland.

2 Schon länger wird die Bezeichnung „Schule für Kranke“ kritisiert, da sie die Krankheit in den Mittelpunkt stellt. Wir schlagen als neuen Namen den Begriff der „Individualschule“ vor.

3 Vgl. beispielsweise die web-individualschule in Bochum (https://webindividualschule.de/kontakt.php) oder das Konzept Flexible Schooling der Privatschule Carpe Diem mit Sitz unter anderem im nordrhein-westfälischen Willich (https://www.carpediem-flexibleschooling.de/?gclid=Cj0KCQjw0K-HBhDDARI-sAFJ6UGh-WOJRTatzDJEGpIhr4n7xxnaeFziDhAs3hUJ5lv9im pJMIWfzdzMaAty-EALw_wcB).

4 Carpe Diem Flexible Schooling kostet aktuell pro Schulhalbjahr 7.200 Euro; dazu kommen Anmelde­gebühren und ggf. Internatsgebühren. An staatlich nicht anerkannten Privatschulen fallen darüber hin­aus noch Prüfungskosten an.

5 Sie sind zum Beispiel am Inda-Gymnasium in Aachen im Einsatz, wie der WDR berichtet hat. Vgl. die Informationen des Inda-Gymnasiums Aachen zu dem dort genutzten Avatar unter: https://inda-gymna-sium.de/welcome-charlie/