I. Ausgangslage
Krankheiten und Symptome äußern sich bei Frauen und Männern unterschiedlich. Lange Zeit haben sich Medizin und Gesundheitsforschung jedoch in erster Linie an Männern orientiert. Bei Medikamententests werden vorrangig männliche Tiere eingesetzt und an klinischen Studien nehmen überwiegend männliche Versuchspersonen teil. Die Dosierung von Medikamenten ist daher meist auf den männlichen Körper abgestimmt. Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede werden als Gender Health Gap bezeichnet. Die Ungleichheit wirkt sich auf die medizinische Versorgung und Behandlung der Patientinnen und Patienten aus.
Die Erkenntnisse und Behandlungsmethoden, die auf der Forschung mit männlichen Versuchspersonen basieren, lassen sich jedoch nicht ohne Weiteres auf Frauen übertragen. Frauen und Männer haben unterschiedliche Hormonhaushalte, Fett-, Muskel- und Knochenmasse, der Stoffwechsel und das Herz-Kreislauf-System arbeiten verschieden. Krankheiten machen sich deswegen häufig unterschiedlich bemerkbar und müssen anders behandelt werden. Aufgrund der männlichen Prägung in der Forschung und Behandlung sind selbst vielen Beschäftigten im Gesundheitswesen diese Unterschiede häufig nicht bekannt. Dazu kommt, dass manche Krankheiten nur mit Frauen oder nur mit Männern in Verbindung gebracht werden. Ärztinnen und Ärzte behandeln Patientinnen und Patienten daher häufig mit einer unterbewussten Voreingenommenheit, die im schlimmsten Fall zu Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen führen kann.
Eine Studie der AXA hat gezeigt, dass 55 Prozent der Hausärztinnen und -ärzte nicht ausschließen können, dass sie nicht bereits selbst fehlerhafte Diagnosen aufgrund von geschlechtsspezifischen Unterschieden gestellt haben1. Zugleich ist 96 Prozent von ihnen bewusst, dass das Geschlecht bei der Behandlung eine Rolle spielt. Trotzdem berücksichtigen 20 Prozent der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte das Geschlecht bei der Behandlung nie und 73 Prozent nur manchmal, bei bestimmten Krankheitsbildern oder Medikamenten.
Auch in der Bevölkerung ist das Bewusstsein um die geschlechtsspezifischen Unterschiede wenig ausgeprägt. Nicht einmal die Hälfte glaubt, dass das Geschlecht eine Rolle spielt. Und nur ein Fünftel der Deutschen glaubt, dass das Geschlecht bei der Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie einem Herzinfarkt eine wichtige Rolle spielt.
Dabei sind gerade bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen die geschlechtsspezifischen Unterschiede sehr groß. Herzinfarkte beispielsweise gelten als Männerkrankheit. Männer erkranken tatsächlich häufiger. Aber Frauen sind ebenfalls davon betroffen und die Wahrscheinlichkeit daran zu sterben, ist bei ihnen sogar mehr als doppelt so hoch wie bei Männern, da sich ihre Symptome von denen der Männer teils stark unterscheiden2. Die Gründe für die höhere Sterblichkeit sind vielfältig. So bekommen Frauen durchschnittlich im höheren Alter als Männer einen Herzinfarkt. Darüber hinaus sind besonders junge Frauen zögerlich, Hilfe zu rufen, aufgrund ihrer beruflichen oder familiären Situation3. Ältere Frauen wollen dagegen unnötige Umstände vermeiden oder fragen sich, was die Nachbarschaft denkt, wenn ein Krankenwagen vor der Tür steht. Diese psychologischen Gründe resultieren in einem bei Frauen längeren Entscheidungsprozess bis sie Hilfe rufen. Es dauert daher bei ihnen bis zu eine Stunde länger, ehe sie im Krankenhaus behandelt werden können4. Herzinfarkte sind jedoch ein medizinischer Notfall, je schneller die richtige Behandlung einsetzt, desto größer sind die Heilungschancen.
Frauen sind sich häufig den Vorerkrankungen, die zu einem Herzinfarkt führen können, nicht bewusst. Zwar erkranken mehr Männer an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zum Beispiel, weil sie häufiger rauchen. Bluthochdruck, Diabetes, Depressionen, Angst, Stress und Rauchen stellen für Frauen aber ein größeres Risiko als für Männer dar. Rauchende Frauen erleiden beispielsweise dreimal häufiger einen Herzinfarkt als Frauen, die niemals geraucht haben, während das Risiko bei Männern nur auf das doppelte steigt. Dazu kommt, dass hormonbedingte geschlechtsspezifische Risikofaktoren die Wahrscheinlichkeit für Herzerkrankungen insbesondere nach der Menopause erhöhen5. Beispielsweise wirken Östrogene unter anderem erweiternd auf die Blutgefäße. Durch Absenkung des Östrogenlevels während der Wechseljahre kann der Hormonschutz nachlassen und das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, steigt dann bei Frauen rascher an als bei Männern. Nachdem sie einen Herzinfarkt erlitten haben, reduzieren Frauen zudem die Risikofaktoren weniger, um dadurch einen zweiten Herzinfarkt zu verhindern. So sind sie im Durchschnitt 10 Jahre älter als Männer, wenn sie erkranken.
Das Altern ist ein Hauptrisikofaktor für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems. Daneben gibt es aber vielfältige Risikofaktoren, die durch einen gesunden Lebenswandel beeinflusst werden können. Eine mediterrane Ernährung in Kombination mit Verzicht auf Alkohol kann z.B. die Cholesterinwerte direkt beeinflussen. Auch eine Nikotinkarenz, salzarme Ernährung, ein gesundes Gewicht und ein Bewegungsausmaß nach der WHO-Empfehlung haben direkten Einfluss auf Blutdruck, Cholesterinwerte und Gefäßbeschaffenheit und können somit immens zur Vermeidung von Herzinfarkten und weiteren Herz-Kreislauf-Erkrankungen beitragen.
Wie wichtig weiterführende Forschung und eine Aufklärung der Bevölkerung ist, zeigt sich im Umgang mit den Symptomen bei einem Herzinfarkt. Häufig erkennen die Betroffenen und auch die behandelnden Ärztinnen und Ärzte nicht, dass sie auf einen Herzinfarkt hindeuten. Das Risiko, eine falsche Erstdiagnose zu bekommen, ist für Frauen 50 Prozent höher als für Män-ner6. Der stechende Schmerz in der Brust, wie ihn viele männliche Betroffene erleben, kann
bei Frauen häufiger ganz ausbleiben oder nur schwach ausgeprägt sein. Fehlt dieses klassische Anzeichen reagieren die Frauen oft nicht rechtzeitig. Sie klagen eher über Kurzatmigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Nackenschmerzen, Kiefer- und Halsschmerzen sowie Beschwerden im Oberbauch7. Gerade Atemnot, Rückenschmerzen und kalter Schweiß sind drei typische Symptome, die bei Frauen mit Herzinfarkt häufiger vorkommen als bei Männern. Das Spektrum an Symptomen ist breit, und nicht alle Herzinfarktpatientinnen und -patienten erleben die gleichen Symptome. Durch die Fehlinterpretation dieser Anzeichen kann es zu einem lebensbedrohlichen Zeitverlust kommen. Deshalb wurden die Leitlinien der Kardiologie sowohl für die ambulante als auch für die Akutversorgung dieses Jahr angepasst.8
Laut einer Studie der British Heart Foundation werden Herzprobleme bei Frauen nicht nur schlechter und später erkannt, die Behandlung erfolgt auch anders als bei Männern9. Weibliche Patientinnen erhalten aufgrund der verzögerten Diagnose erst später eine Behandlung und bekommen seltener Medikamente verschrieben, um einen zweiten Herzinfarkt zu verhindern. Die Wahrscheinlichkeit, dass Anomalien und Engstellen in den Gefäßen entdeckt und Engstellen zum Beispiel durch Stents durchgängig gemacht werden, ist geringer. Wichtig ist es zu betonen, dass die Ärztinnen und Ärzte die Betroffenen nicht willentlich anders behandeln. Deswegen ist es wichtig, die Ursachen dafür herauszufinden und zu beheben. So können Leben gerettet werden.
Zu den schlechteren Überlebenschancen von Frauen trägt bei, dass die durchgeführten Behandlungen aufgrund der biologischen Unterschiede anders anschlagen. Frauen sind in klinischen Test lange nicht berücksichtigt worden und sind auch heute noch unterrepräsentiert. Die Medikamente und Behandlungsmethoden sind daher nicht auf Frauen abgestimmt. Dadurch könnten sie weniger oder anders wirksam sein, als wenn sie Männern verabreicht werden.
Frauen werden bei jedem Schritt des Verfahrens – Diagnose, Behandlung und Nachversorgung – schlechter behandelt als Männer. Daraus resultiert die doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit, an einem Herzinfarkt zu sterben. Die Unterschiede in der Behandlung zwischen Frauen und Männern sind statistisch gesehen nur gering, aber auf die Bevölkerung hochgerechnet signifikant. In unserem modernen Gesundheitswesen des 21. Jahrhunderts sind dies unnötige Falschbehandlungen und Todesfälle, die es zu verhindern gilt.
Auch wenn die Ungleichbehandlung am Beispiel von Herzinfarkten aufgezeigt worden ist, betrifft sie auch andere Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinsuffizienzen 10. Frauen erhalten die Diagnose sechsmal später als Männer und werden doppelt so oft falsch diagnostiziert. Es fehlt das Bewusstsein dafür, dass sich die Krankheit bei ihnen anders äußern kann.
II. Beschlussfassung
Der Landtag stellt fest:
- Die sich aus dem Gender Health Gap ergebenden Ungleichheiten fordern Menschenleben.
- Die Behandlung und Forschung von an Krankheiten erfolgt nicht geschlechtergerecht.
- In der Bevölkerung gibt es große Wissenslücken über die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
- Die medizinische Erforschung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen war lange Zeit zu einseitig auf Männer ausgerichtet. Deswegen sind unter anderem viele ältere Medikamente nicht auf Frauen abgestimmt.
Der Landtag beauftragt die Landesregierung, aus vorhandenen Mitteln:
- Forschungsvorhaben aktiv zu begleiten, um die bestehenden Datenlücken insbesondere in Bezug auf geschlechtsspezifische Unterschiede bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu identifizieren und zu schließen.
- Bei den zuständigen Ministerien dafür zu werben, zukünftig bei Forschungsvorhaben Geschlechterunterschiede zu berücksichtigen.
- Die Bevölkerung und Akteure im Gesundheitswesen für geschlechterspezifische Risikofaktoren zu sensibilisieren. Dabei soll auf spezielle Risikofaktoren wie beispielsweise hormonelle Veränderungen in den Wechseljahren, und spezielle Symptome eines Herzinfarkts hingewiesen werden. Präventive Empfehlungen, wie Lebensstiländerungen, sollen in Zusammenarbeit mit dem Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit (BIÖG) und den Krankenkassen geschlechtsspezifisch ausgearbeitet werden.
Mit Bund und Ländern eine Lösung zur Umsetzung der neuen ärztlichen Approbationsordnung zu erreichen, damit die Studentinnen und Studenten für den Gender Health Gap sensibilisiert und geschlechtsspezifische Unterschiede in der Forschung, Diagnose und Behandlung relevanter Bestandteil der Lehre werden.
2 https://www.eurekalert.org/news-releases/989635.
3 https://www.diabetologie-online.de/a/schwerpunkt-gendermedizin-die-herzen-der-frauen-2458576.
4 https://www.barmer.de/gesundheit-verstehen/mensch/ungleichbehandlung/herzinfarkt-frauen-1071294.
5 https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2589790X23003001, https://herzmedizin.de/fuer-patienten-und-interessierte/vorsorge/risikofaktoren/herzkrankheiten-risiko-maenner-frauen.html.
6 Ebd., S. 15.
7 https://herzstiftung.de/infos-zu-herzerkrankungen/herzinfarkt/anzeichen/herzinfarkt-frauen-symptome.
8 https://leitlinien.dgk.org/files/mpll_01_2024_master_pocket_leitlinien_ambulante_versorgung_version_2024.pdf, https://leitlinien.dgk.org/files/mpll_02_2024_master_pocket_leitlinien_akutversorgung_version_2024.pdf
9 https://www.bhf.org.uk/-/media/files/heart-matters/bias-and-biology-briefing.pdf?rev=cd26147a45f9444098aa2949551f3803&hash=7C4225981A8554B921502F609C42C7F9, S. 17–18.
10 https://pharma-fakten.de/news/gender-health-gap-macht-krank/.