Handout zum Gesetzentwurf der Landesregierung für ein Versammlungsgesetz NRW – nach Änderungsantrag der Fraktionen von CDU und FDP

Portrait Verena Schäffer Linda Hammer 2022

Allgemeine Einordnung:

  • Seit der Föderalismusreform 2006 liegt die Zuständigkeit für das Versammlungsrecht beim Land. Dass sich der Landtag 15 Jahre danach mit einem eigenen Versammlungsgesetz für NRW beschäftigt, ist vom Grundsatz her richtig, denn ein eigenes Gesetz trägt zur Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Regelungen sowohl für Bürgerinnen und Bürger als auch für die Polizei bei.
  • Allerdings ignoriert die Landesregierung in ihrem Gesetzentwurf die Bedeutung der Versammlungsfreiheit, die das Bundesverfassungsgericht fortlaufend hervorhebt (v.a. Brokdorf-Beschluss 1985): In Versammlungen nehmen Bürgerinnen und Bürger aktiv am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess teil. Daher gehört die Versammlungsfreiheit zu den „unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens.“[1] Der Versammlungsfreiheit gebührt „in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang“.[2]
  • Der Gesetzentwurf ist ein Rückschritt: Er regelt das Versammlungsrecht mit dem Ansatz der Gefahrenabwehr, baut unnötige Hürden auf, anstatt es Bürgerinnen und Bürgern zu erleichtern, Versammlungen durchzuführen. Der gesamte Gesetzentwurf und auch die Begründung stehen nicht im Zeichen der Versammlungsfreiheit, sondern sehen in Versammlungen eine potenzielle Gefahr für die öffentliche Sicherheit und versuchen, Versammlungen daher repressiv zu regeln.

Positiv zu bewertende Aspekte des Gesetzentwurfs:

Schützenswerte Orte und Tage (§ 19 VersG-E LReg)

  • Es ist ein guter Vorstoß, Versammlungen an Orten und Tagen zu beschränken oder zu verbieten, die dem Gedenken an die Opfer und die Verbrechen der NS-Diktatur gewidmet sind, wenn sie NS-Ideologie billigen oder verherrlichen wollen.
  • Es handelt sich dabei vor allem um ein wichtiges Signal, dass die Opfer von Verbrechen der NS-Diktatur nicht verhöhnt bzw. diese geleugnet oder verherrlicht werden dürfen. Gleichwohl ersetzt es das Engagement gegen Rechtsextremismus durch den Staat und die demokratische Zivilgesellschaft nicht.

Kritik:

Faktische Kooperationspflicht (§ 3 Abs. 3)

  • Laut Gesetzentwurf sind Veranstalterinnen und Veranstalter zur Kooperation „aufgerufen“ (§ 3 Abs. 3 Satz 1). Eine Kooperationspflicht besteht aber nur für die Behörden (Brokdorf-Beschluss), damit Freiheitsrechte effektiv ausgeübt werden können. Sie gilt nicht für die Bürgerinnen und Bürger (das ergibt sich aus dem Selbstbestimmungsrecht, selber über Ort, Zeit, Art und Inhalt von Versammlungen zu bestimmen und daraus, dass sich der Staat grundsätzlich aus Versammlungen heraushalten soll).
  • 3 Abs. 3 Satz 3 („soll“) legt nahe, dass die Behörde bei einer verweigerten Kooperation Beschränkungen oder mehr erlässt, was einen Zwang zur Kooperation bedeutet. Das ist verfassungsrechtlich bedenklich, da eine Kooperationsverweigerung nicht automatisch zu einer Einschränkung der Versammlungsfreiheit führen darf. Zudem können daraus allein keine Schlüsse auf die Gefahr einer Versammlung gezogen werden.
  • Die Vorschrift sollte gestrichen werden.
  • Keine Sanktionen z.B. in Schleswig-Holstein und Berlin; Bayern spricht von „kann“ (Ermessen) (Art. 14 Abs. 2 BayVersG).

Pflicht zur Bestimmung einer Versammlungsleitung (§ 5 Abs. 3)

  • 5 Abs. 3 Satz 2 verlangt, dass es für jede öffentliche Versammlung eine Versammlungsleitung geben muss. Wenn keine Versammlungsleitung benannt wird, legt der Gesetzesentwurf nahe, dass die Polizei eine Leitung bestimmt. Das kann eine abschreckende Wirkung auf die Teilnehmenden entfalten, zudem fallen auch Versammlungen ohne Leitung unter Art. 8 GG (Versammlungsfreiheit).
  • Die Regelung sollte daher gestrichen werden.
  • Auch Schleswig-Holstein und Bayern haben keine vergleichbare Regelung. Berlin hat eine „Kann“-Vorschrift gewählt (Ermessen) (§ 6 Abs. 3 VersFG Berlin).

Versammlungsleitung und deren Pflichten (§ 6)

  • Die Vorschrift ist laut der Gesetzesbegründung als Pflicht der Versammlungsleitung zu verstehen, zum Wohl der öffentlichen Sicherheit für die Friedlichkeit der Versammlung zu sorgen (§ 6 Abs. 1). So wird die Versammlungsleitung zu einer Art Garantin für die staatliche Ordnung.
  • Auch diese Vorschrift hat eine abschreckende Wirkung, in Zukunft die Versammlungsleitung zu übernehmen. Die Regelung ist ein Rückschritt, da der Bundesgesetzgeber auf diese Pflicht bewusst verzichtet hat.
  • Eine Versammlungsleitung soll allenfalls die Möglichkeit haben, ordnend auf die Durchführung der Versammlung einzuwirken.

Störungsverbot (§ 7)

  • Nach § 7 des Gesetzentwurfes der Landesregierung sollte jegliche Störung von Versammlungen verboten werden. Die Klarstellung durch den Änderungsantrag von CDU und FDP, dass zumindest akustische Störungen bis zu einem bestimmten Grad nicht erfasst werden, ist wichtig. Konsequent wäre es gewesen, in § 7 Abs. 1 das Verbot der Störung einer Versammlung zu streichen, um klarzustellen, dass Gegendemonstrationen selbstverständlich möglich sind.
  • Vom Störungsverbot sind auch demonstrative bzw. symbolische Blockaden betroffen. Sie sind hingegen verfassungsrechtlich zulässig, weil sie lediglich Aufmerksamkeit erregen mit dem Ziel, ihre Meinung besser wahrnehmbar zu äußern. Das ist möglich, weil sie andere Demonstrationen gerade nicht verhindern wollen (Verhinderungsblockaden).

Anwendbarkeit des Polizeigesetzes NRW, Abgrenzung zum Versammlungsrecht (§ 9)

  • 9 will klären, in welchen Situationen nach welchem Gesetz Maßnahmen gegen einzelne Versammlungsteilnehmerinnen und -teilnehmer getroffen werden können – Versammlungsgesetz oder Polizeigesetz.
  • Die gewählte Regelung sorgt hingegen nicht für Klarheit für die Anwendung in der Praxis, weil sie es zulässt, dass Versammlungsrecht und Polizeigesetz nebeneinander angewendet werden können. (Beispiel: Störer in Versammlungen können nach Versammlungsgesetz ausgeschlossen werden (§ 14 Abs. 3). Der Gesetzentwurf legt aber nahe, dass weitere Maßnahmen auch nach Polizeigesetz möglich sind (z.B. Ingewahrsamnahme). Das sorgt für Verwirrung. Besser wäre es, sämtliche Gefahrenabwehrmaßnahmen für Versammlungen im Versammlungsgesetz zu regeln.
  • Die Rechtsprechung des BVerfG sagt klar, dass Gefahrenabwehrmaßnahmen gegen Versammlungen nur nach dem spezielleren Versammlungsrecht zulässig sind, weil Behörden in die hochrangige Versammlungsfreiheit nicht aufgrund der allgemeineren Polizeigesetze eingreifen dürfen.
  • 9 Abs. 4 sieht die Anwendung von Polizeirecht unmittelbar nach Beendigung von Versammlungen vor. Das ignoriert, dass die Versammlungsfreiheit auch die Nachphase von Versammlungen schützt und Polizeirecht ausschließt. Der Absatz sollte daher gestrichen werden.

Behördliche Ablehnungsrechte (§ 12)

  • Das im Gesetzentwurf vorgesehene Recht der Polizei, Versammlungsleitung und Ordnerinnen und Ordner abzulehnen, ist ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit, weil damit das Selbstbestimmungsrecht und die Staatsferne von Versammlungen stark beschränkt würde.
  • Eine vergleichbare Regelung fehlt im Bundesgesetz. In Bayern sind Ablehnungen nur unter erschwerten Bedingungen möglich (wenn die Personen die Friedlichkeit der Versammlung gefährden).

Bild- und Tonaufnahmen und -aufzeichnungen (§ 16)

  • Bild- und Tonaufnahmen und -aufzeichnungen von Versammlungen sind sehr sensibel, da sie nach Rechtsprechung aufgrund ihrer abschreckenden Wirkung einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit darstellen. Zudem stellen sie einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Versammlungsteilnehmerinnen und -teilnehmer dar.
  • Nach dem Gesetzentwurf sollen Bild- und Tonaufnahmen sowie Aufnahmen von einer Person angefertigt werden können, wenn von dieser Person eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht. Dieser Gefahrenbegriff ist zu unbestimmt und ist inhaltlich zu konkretisieren. Daran ändert auch der Änderungsantrag der Fraktionen von CDU und FDP nicht.
  • Übersichtsaufnahmen sollen möglich sein, wenn die Größe und Unübersichtlichkeit der Versammlung das erfordert. Diese Begriffe sind völlig unbestimmt und damit ins Belieben der jeweiligen Behörde gestellt, obwohl damit Grundrechtseingriffe verbunden sind. Hier müssen enge Voraussetzungen geschaffen werden.
  • Die Maßnahmen werden in der Praxis vor allem dafür sorgen, dass für spätere Strafverfolgungsmaßnahmen Beweismittel vorliegen. Diese Strafverfolgungsvorsorge ist repressiver Natur und unterliegt der Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Das Landesgesetzgeber ist also hierfür nicht zuständig.

Vermummungsverbot (§ 17 Abs. 1)

  • Der Gesetzentwurf sieht vor, dass es verboten sein soll, Gegenstände am Körper zu tragen oder mit sich zu führen, die zur Identitätsverschleierung oder als Schutzausrüstung geeignet sind.
  • Das Verbot des reinen Mitsichführens geht dabei zu weit und sollte auf die tatsächlich stattfindende Identitätsverschleierung konkretisiert werden, die das Ziel hat bei der Begehung von Straftaten unerkannt zu bleiben.

Militanzverbot (§ 18) (neu: „Gewalt- und Einschüchterungsverbote“)

  • Die Klarstellung des Änderungsantrags von CDU und FDP ist notwendig, um der Unbestimmtheit des Gesetzentwurfes entgegenzuwirken. Gewerkschaften und Fußballfans hatten ihre massiven Bedenken geäußert.
  • Da die Fraktionen von CDU und FDP im Änderungsantrag auf die Gesetzesbegründung nicht kritisch eingehen, bleibt der verfassungsrechtlich und historisch unzulässigen Vergleich in der Begründung: die Proteste im Rheinischen Braunkohlerevier werden mit den Aufmärschen der nationalsozialistischen SA und SS verglichen. Weiße Overalls der Klimabewegung werden zudem zusammen mit Springerstiefeln, Marschtritt und Trommelschlägen genannt, die „aggressionsstimulierende und einschüchternde Wirkung“ hätten (S. 77 Gesetzentwurf der Landesregierung).

Straftaten und Ordnungswidrigkeiten (§§ 27, 28)

  • Entgegen vieler Beispiele anderer Länder (Schleswig-Holstein, Berlin, selbst Bayern zum Teil), Straftatbestände des Bundesgesetzes in Ordnungswidrigkeiten zu wandeln, hält die Landesregierung an ihnen fest.
  • Der ausführliche Bußgeldkatalog sorgt dafür, dass jedweder Verstoß gegen Vorschriften geahndet werden kann. Damit wird der abschreckende Charakter des Gesetzesentwurfes der Landesregierung deutlich.
  • Besonders zu kritisieren ist die Strafbarkeit von unterlassenen Anmeldungen (bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe od. Geldstrafe, § 27 Abs. 1), einer anderen Durchführung von Versammlungen als angemeldet (bis zu sechs Monaten Freiheitsstrafe oder Geldstrafe, § 27 Abs. 2) oder Verstöße gegen das Vermummungsverbot (bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe od. Geldstrafe, § 27 Abs. 7). Sie könnten ohne Weiteres als Ordnungswidrigkeit geregelt werden, da es um Verstöße gegen Verwaltungsvorschriften geht. So geschehen z.B. in Schleswig-Holstein und z.T. in Bayern. Uns sind keine Fälle bekannt, dass Demonstrationen dort unfriedlicher wurden. NRW sollte dem Vorbild folgen.

Fehlende Vorschriften:

Schutz von Medienvertreterinnen und -vertretern bei Versammlungen

  • In ein Versammlungsgesetz sollte der besondere Schutz von Medienvertreterinnen und -vertretern aufgenommen werden. Das sorgt für Klarheit und würde die Bedeutung des Schutzes der Medien unterstreichen.
  • Die Funktion der Versammlungsfreiheit für ein demokratisches Gemeinwesen wird wesentlich durch freie Medien und ihre freie Berichterstattung unterstützt.
  • Angriffe gegen Medienvertreterinnen und -vertreter bei Demonstrationen sind nicht hinnehmbar. Z.T. gibt es Kritik an fehlendem Schutz durch die Polizei oder an Behinderungen von Berichterstattung.

Datenschutzregeln für Vorschriften zur Datenerhebung

  • Der Gesetzentwurf der Landesregierung enthält viele Vorschriften zur Erhebung von Daten von Bürgerinnen und Bürgern (z.B. Versammlungsanmeldungen (anzeigende Person, Leiterin/Leiter (§ 10 Abs. 2), Bild- und Tonaufzeichnungen (§ 16)).
  • Es fehlen jedoch Vorschriften zur Verarbeitung der erhobenen Daten. Gerade für die Datenübermittlung, wäre das erforderlich, da Datenaustausch unter Sicherheitsbehörden praktischer Alltag ist.

 

[1] Bundesverfassungsgericht, Brokdorf-Beschluss, erster Leitsatz, online: Link (05.05.2021).

[2] Bundesverfassungsgericht, Brokdorf-Beschluss vom 14.05.1985 – Az. 1 BvR 233, 341/81 –, BVerfGE 69, 315, 343 – online: Link, Rn. 62 (05.05.2021).

 

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